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Abseits der Bohème. Der Schriftsteller Joseph Andras publiziert unter Pseudonym. Nur dieses Foto, das den 32-Jährigen angeblich in der Normandie zeigt, existiert von ihm.

© Rezvan S.

„Die Wunden unserer Brüder“ von Joseph Andras: Schuld ohne Sühne

Joseph Andras verarbeitet in seinem preisgekrönten Romandebüt „Die Wunden unserer Brüder“ den Fall von Fernand Iveton, der für seinen Protest im Algerienkrieg von Frankreich hingerichtet wurde.

Als die Wärter Fernand Iveton am frühen Morgen holen, sucht sein umnachteter Blick noch die Zellengenossen. „Der Erste wirkt verloren und verängstigt, fast noch mehr als Fernand selbst; der Zweite ist ernst und starr, eine antike Statue. Seine schwarzen Augen zerreißen die Schleier des Schlafes mit einem Lidschlag, einem einzigen. Seine schwarzen Augen, glasklare Nadeln, zwingen den Verurteilten, auch seine aufzumachen – in jeder Hinsicht.“

Kann man einen Roman über den Algerienkrieg mit deutlicheren Worten beschließen? Die Augen zu öffnen, dazu ist nicht nur Fernand Iveton in Joseph Andras’ Debütroman „Die Wunden unserer Brüder“ gezwungen. Auch dem Leser scheint dieser Apell zu gelten, der Gesellschaft, der französischen zuvorderst, der Europas nicht zuletzt. Er lässt an Schillers Diktum von der Bühne als Gericht der Geschichte denken. Andras erhebt mit seiner bebenden, politischen Prosa den Hingerichteten Iveton zum Richter über das koloniale Frankreich. Er inszeniert die historische Tragödie seines Todes als brennende Anklageschrift.

Der 31-Jährige, eine reale Gestalt der Geschichte, war Kommunist, ein naiver Idealist dazu. Aber hatte er den Tod verdient? 1957, inmitten des Algerienkrieges, platziert er eine Bombe in einer Fabrik in Algier. Iveton will niemanden verletzen. Sein Sabotageakt ist ein Protest gegen den ätzenden Rassismus der Kolonialmacht. Davon will nach seiner Verhaftung niemand etwas wissen. Die französische Presse brandmarkt ihn als Verräter und Terroristen. Soldaten verbrennen beim Verhör seinen Körper, schlagen ihn bewusstlos. Politiker fordern seinen Kopf. Iveton ist der „Weiße, der sich an die Handtuchköpfe verkauft hat.“

Joseph Andras ist für seinen Roman mit dem Prix Goncourt für das beste Debüt ausgezeichnet worden - und hat ihn abgelehnt. Der 32-Jährige meidet den Literaturbetrieb. Er publiziert ähnlich wie Italiens Elena Ferrante unter Pseudonym, Interviews beantwortet nur per E-Mail. „Lacan sagte über das Verdrängte, dass es da spreche, wo es leide“, schrieb er vor kurzem. „Über den Kolonialismus müssen wir ohne Zweifel noch sprechen.“ Das gilt gerade für Frankreich, dessen Politiker auf den Dekolonisationskrieg bis 1999 nur als die „Ereignisse von Algerien“ referierten.

Der Kolonialismus als wilde Bestie des Humanismus

Der Fall Iveton ist dabei gleichzeitig apart und symbolisch für das unverarbeitete Trauma. Denn der in Algerien aufgewachsene Europäer Iveton tritt der Widerstandsbewegung bei, verurteilt jedoch deren blindes Blutvergießen. Er wünscht sich, dass Christen, Muslime, Juden, Europäer und Araber friedlich miteinander koexistieren. Das macht ihn zur Projektionsfläche für den Hass der Franzosen. Der Verurteilte glaubt bis zuletzt an den Élysée-Palast – und seine Begnadigung. Er will nicht wahrhaben, was Andras allzu deutlich macht. Die Guillotine ist das Kind der Aufklärung und der Kolonialismus – ganz nach Achille Mbembe – die wilde Bestie des Humanismus.

Dabei erzählt Andras die Geschichte nicht aus der Haltung einer unvermeidlichen Historie heraus. Er setzt ihr vielmehr den Möglichkeitsraum poetischer Imagination entgegen, indem er die Handlung auf zwei Zeitebenen stattfinden lässt. In ihrem Zentrum steht die Liason zwischen dem ungestümen Proletarier Fernand und der Französin Hélène aus gehobenem Hause. So schafft der Roman in der Liebe einen zutiefst berührenden und ehrlichen Gegenentwurf zum rassistischen Blick der kolonialen Gesellschaft.

Joseph Andras: Die Wunden unserer Brüder. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Hanser Verlag, München 2017. 158 Seiten, 18 €.

Giacomo Maihofer

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