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Schriftsteller Erich Kästner, eine Zigarette rauchend.

© picture-alliance / dpa/dpaweb

Erich Kästner im Berlin der NS-Zeit: Gesinnungswechsel auf Kommando

Blick in die Abgründe des Banalen: „Das Blaue Buch“ dokumentiert erstmals und umfangreich Erich Kästners Aufzeichnungen aus dem Berlin der 1940er Jahre.

Warum Erich Kästner nach 1933 in Deutschland blieb, obwohl er zusehen musste, wie man seine Bücher verbrannte und er im Reich nicht mehr publizieren durfte – diese Frage hat man immer wieder einmal gestellt. Die eine geläufige Antwort lautet: Er wollte Zeuge sein und einen Roman darüber schreiben. Die andere: Der gute „Junge“ wollte sein „liebes, gutes Muttchen“ nicht zurücklassen. Sein Tagebuch offeriert nun, mit etwas Sarkasmus gelesen, eine profanere, dritte Variante: Wer im Ausland hätte ihm seine Wäsche so zuverlässig wie die Mutter gewaschen und gebügelt?

Dies ist vielleicht die seltsamste Lehre aus seinem Tagebuch, das vom Verlag als „Sensation“ beworben wird: Die Post, mit der die einschlägigen Pakete noch im Sommer 1943 von Berlin nach Dresden und retour geschickt wurden, funktionierte selbst zu härtesten Bombenkriegszeiten zuverlässig, und als schließlich auch die Post unsicher wurde, kam Muttchen persönlich per Bahn.

„Das Blaue Buch“, in dem man solches lesen kann, basiert auf einer Publikation des Marbacher Literaturarchivs von 2006. Diese ist nun mitsamt dem Nachwort von Ulrich von Bülow in einer sorgfältig gemachten Ausgabe in Kästners Hausverlag Atrium neu zu lesen, ergänzt um Erläuterungen am Rand und ein ausführliches, instruktives Vorwort von Sven Hanuschek, dem Kästner-Experten schlechthin. Eine ertragreiche Lektüre nicht nur für Fans von Erich Kästner.

Er will als Chronist dabei sein

Einmal mehr öffnet sich ein Blick auf die Jahre zwischen 1933 und 1945, ein Blick, der das Abgründige im Banalen, das Alltägliche im Unfassbaren offenbart. Genauer besehen handelt es sich um ein Tagebuch aus den Jahren 1941, 1943 und 1945 sowie um sich damit öfters doppelnde Notiz-Konvolute zu zwei Romanen, die nicht zustande kamen. Warum eigentlich nicht? Waren sie nicht eine wesentliche Rechtfertigung dafür, in Deutschland geblieben zu sein?

„Einer, der dableibt, um Chronist zu sein“, rechtfertigt er sich und attestiert sich zugleich ein „risikoreiches Vorhaben“. Doch Kästner ist nach der Befreiung bald wieder voll im Tagesbetrieb. Vor allem erfährt er, der zwar gelegentlich Verfolgung und Ermordung von Juden festgehalten hatte, erschüttert das wahre Ausmaß der Vernichtung.

Eine Sammlung von Abstrusem und Aberwitzigem

Von Notizen wie derjenigen, dass die Nazis den „Volksgenossen“ dasselbe antäten wie den Juden, „bis zur Telefonstilllegung und zum Arbeitseinsatz“, kann nun nicht mehr die Rede sein. Hatte er bis dahin eher das Lächerliche und Groteske im Sinn, die Nazizeit als ein Experiment, „den Charakter des ganzen deutschen Volks zu versauen“, indem „Denunziantentum, Niedertracht, Brutalität, Größenwahn, Gesinnungswechsel auf Kommando“ Einzug halten, musste er begreifen, dass sein Widerstand gegen den „Aufstand der Halbgebildeten“ das Verbrecherische des Geschehens gewaltig unterschätzte.

Umso mehr liest sich das Tagebuch heute als Sammlung von Abstrusem und Aberwitzigem, Opportunismus und Kriecherei im Schatten. Der Schauspieler Emil Jannings wird als „kaltschnäuziger Geldmacher“ beschrieben und der Journalist Walther Kiaulehn als alkoholisierter Kriegsberichterstatter. Man erfährt, dass Gustaf Gründgens aus Protest gegen die mediokre Rolle als Chamberlain in dem antibritischen Propagandafilm „Ohm Krüger“ kein Honorar annimmt, Fritz Fischer dagegen die Intendanz des Operettenbetriebs im Münchner Staatstheater am Gärtnerplatz, weil er „seine Nackttänzerin an den Gauleiter verhökerte“. Auch Seltsamkeiten aus der Feder des Womanizers Kästners sind zu finden: „Wenn eine Frau eine Schweinerei begeht, hat sie allenfalls Angst vor Entdeckung; der Mann hat ein schlechtes Gewissen. Der Mann ein vermantschtes Produkt aus mehreren Bestandteilen; die Frau ein klares Produkt aus einer Veranlagung.“

Städtische Landwirtschaft. Kreuzberger Senfernte im August des Kriegsjahres 1943.
Städtische Landwirtschaft. Kreuzberger Senfernte im August des Kriegsjahres 1943.

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Schrittweise ändern sich Akzentuierung und Ton. 1941 noch hält er ausführlich die militärischen Erfolge fest, ärgert sich über die versagenden Italiener und verzeichnet in einer Mischung aus Unglauben und Bewunderung die besetzten Länder. Dazu legt er eine lange, detaillierte Liste an, referiert die heuschreckenartigen Ausplünderungen und schamlosen Schiebereien, deren Früchte er allerdings auch gerne selber erntet. Auf ihn warten „Sekt, Hummer und Orchideen“ im Überfluss. Die Prasserei der Militärs und das exzessive Nachtleben beschäftigen ihn.

Besonders neugierig bleibt er auf die Kriegsentwicklung. Mal spekuliert er, dass man demnächst wohl viele „Menschen mit Kolonialvergangenheit“ brauche, mal ist er enttäuscht: „Man erfährt ja nichts …“ 1943 herrscht Skepsis vor, allenfalls das Staunen, wie unter Bomben das Leben in Berlin doch weitergeht, der Alltag irgendwie noch funktioniert. Es ist das alles ein Amalgam aus Selbsterlebtem, Informationen hinter vorgehaltener Hand, Lektüre, Nachrichten, erkannten Lügen, Dementis, vor allem aber Gerüchten, „am laufenden Band fabriziert“, und immer wieder eigenen Spekulationen.

Später werden seine Notizen ruppiger

Trotz Berufsverbot blieb Kästner erstaunlich gut vernetzt. Nach seinem Drehbuchauftrag unter Pseudonym für „Münchhausen“ machte er sich gar Hoffnungen, auch weiterhin beschäftigt zu werden, zumal Goebbels vom Film so begeistert war. Das trog. Allerdings war Kästner dann wiederum Anfang 1945 bei einer absurden Unternehmung dabei, in deren Gefolge ein riesiger Tross von Ufa-Mitarbeitern aus Berlin ins sicherere Zillertal zog, angeblich um einen Film zu drehen, für den man nicht einmal Material mithatte. Das Projekt – „Sommerfrische und Untergang des Abendlandes“ – eignete sich bestens für seine Beobachtungen. Er notiert Spannungen zwischen Landbewohnern und Städtern, Fanatikern und Ausweichlern – und den Aberwitz einer Bürokratie, die noch die Vernichtung der gehorteten Lebensmittel in achtfacher Ausfertigung dokumentiert.

Hier wird auch der Ton der Notizen ruppiger. Wütend macht ihn nach der Kapitulation der Opportunismus der Österreicher, enttäuscht ist er über die Amerikaner, weil sie der deutschen Bevölkerung vorwerfen, „sie habe die Nazis geduldet! Deutschland ist das am längsten von den Nazis unterdrückte Land gewesen!“ Die Besatzer, die sich als „Sieger“ gerieren, schreibt er, hätten „eine Umwälzung revolutionärer Art“ verhindert. Ausgerechnet gegen ihn sei man misstrauisch. Die verhörenden Emigranten seien „begreiflicherweise unwissend und können sich nicht in das Leben von uns hineinversetzen“.

Doch alsbald ist Erich Kästner mit deren Hilfe wieder dabei und mittendrin. Nur der nie geschriebene Roman wird ihn noch lange umtreiben.

Erich Kästner: Das Blaue Buch. Geheimes Kriegstagebuch 1941 - 1945. Atrium Verlag, Zürich/Hamburg 2018. 405 Seiten, 32 €.

Erhard Schütz

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