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Kultur: Grass und wie er die Welt sieht

Premiere von „Wickerts Bücher“: Der Schriftsteller stellt sich dem Streit über seine Erinnerungen und seine Zeit bei der Waffen-SS

Es lag bei mir begraben, sagt Günter Grass. Er legt die Hände übereinander, unendlich ruhig, fast abgeklärt, ausnahmsweise ohne Pfeife. Man kennt diese Gesten von Professoren, vom Papst. Ulrich Wickert hatte nicht gefackelt und gleich gefragt: Das Geständnis seiner Zeit bei der Waffen-SS, warum erst jetzt? Und Grass, als ob er auf diese Frage nicht schon zigmal geantwortet hätte, hatte eine wohldosierte Denkpause eingelegt. Der Rhetor spricht, der Schauspieler Grass inszeniert den Großschriftsteller, der jedes Wort mit Bedacht setzt.

Grass lächelt leise, wenn er Charlotte Knobloch, der Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Vorwürfe zugesteht und ihr wünscht, dass sie die Zeit findet, sein Buch „Beim Häuten der Zwiebel“ auch zu lesen. Grass, der Gönnerhafte: „Wer richten will, mag richten.“ Sollen sie ihn aburteilen, zur Unperson erklären und alles in Frage stellen, was sein späteres Leben ausmachte. Grass beklagt sich über ihre Selbstsicherheit und verweist auf seine Verdienste, als gäbe es so etwas wie ein moralisches Guthaben. Und verdeutlicht mit jedem Satz, mit jeder Geste, jedem Blick in Richtung Wickert, dass er sich nicht verunsichern lässt. Nicht von den anderen. Der Einzige, dessen Vorwürfe er sich zu Herzen nimmt, ist er selbst. Grass’ Richter heißt Grass. Die Öffentlichkeit, die er mit seinen Richtsprüchen nie verschonte, sie kommt ihm nicht bei. Er stellt sich ihrer Kritik, gerne vor laufender Kamera, aber sie ficht ihn nicht an.

Wickert bittet den Autor, die Buchpassage mit der Waffen-SS vorzulesen. Und Grass trägt vor, das kann er gut. Seine Stimme bleibt fest, souverän setzt er Zäsuren, Betonungen. Und Wickert – nein, die aus aktuellem Anlass vorgezogene Premiere seiner ARD-Sendung „Wickerts Bücher“ ist keine Literatursendung, sondern ein klassisches Journalisten-Interview nach „Tagesthemen“-Art – Wickert fasst nach: Warum hat Grass nicht 1967 in Israel von seiner Mitgliedschaft bei der Waffen-SS gesprochen? Warum nicht im Mai 1985, anlässlich von Kohls und Reagans Besuch auf dem Bitburger Soldatenfriedhof? Warum nicht während seines Besuchs bei den Hinterbliebenen von Manfred Augst, der als SS-Mann und späterer Pazifist nicht klarkam mit sich und öffentlich beim Evangelischen Kirchentag 1969 Zyankali schluckte? „Das war eine schockierende Veranstaltung,“ sagt Grass. Veranstaltung? In eigener Sache schludert Grass nicht so mit den Begriffen.

Nein, Grass entschuldigt sich nicht, gesteht nichts ein, verweist jedes Mal auf sein Buch. Drei Jahre hat er daran gearbeitet, da steht alles drin. Punktum. Er sei zur Waffen-SS eingezogen worden, sagt er mehrmals. Da fragt Wickert nicht nach, obwohl Historiker und Zeitzeugen darauf verwiesen haben, dass man nicht eingezogen wurde, sondern sich meldete. Ein Gespräch unter Männern, man versteht sich halt: Wickerts Beharren bleibt milde – und Grass auf Sparflamme.

Der Schriftsteller, der den eigenen Lebensstoff seit 60 Jahren in Literatur verwandelt, kann nicht aus seiner Haut, wenn es um das Leben der anderen geht. Auch dieses ist ihm nur: Stoff. Die solcher Arbeitsweise innewohnende Egozentrik wird erschreckend deutlich beim Fernsehgespräch im dänischen Hotel. Grass führt aus, dass Manfred Augsts Tochter ein Buch über ihren Vater „herausgegeben“ habe. Aber sie hat es nicht herausgegeben, sondern geschrieben, ist eine Autorin wie er selbst. Das kommt Grass nicht über die Lippen. Lieber nimmt er das Schicksal der Familie zum Anlass, um zu erwähnen, dass Ute Scheub – nicht er, sondern Wickert nennt den Familiennamen – in ihrem Buch Passagen aus seinem „Tagebuch einer Schnecke“ zitiert. Ähnlich verfährt er, als Wickert die Vergewaltigung von Grass’ Mutter und Schwester erwähnt. Kurzes Schweigen, und Grass spricht sofort wieder von sich: Wie er das Leiden der Deutschen am Beispiel des Untergangs der „Wilhelm Gustloff“ im Buch „Im Krebsgang“ thematisiert hat.

Wie gesagt, vom Literarischen ist nicht die Rede. Kein Wort über die Moral der Sprache. Nichts über das Schreiben vom Ich in der dritten Person. Nichts über die ästhetische Unschärferelation des Buchs, dort, wo es um den Soldaten Grass geht, während der Hobbykoch Grass beim „Häuten der Zwiebel“ gern drastisch-deutlich wird und von gestocktem Blut oder geronnenem Schweinehirn schreibt. Der Journalist Wickert hat einen soliden Job erledigt, den Literaturkritiker Wickert kennt der Zuschauer noch nicht.

Die Mehrheit der Deutschen, so die jüngste Umfrage, hat Verständnis für das späte Eingeständnis des Nobelpreisträgers. 1,48 Millionen Zuschauer sahen „Wickerts Bücher“. Das ist viel für ein Literaturmagazin – und wenig angesichts der öffentlichen Erregung über den Fall GG.

siehe auch Seite 22

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