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„Und auf einmal war alles ganz anders.“ Ingeborg Bachmann in den sechziger Jahren in Rom.

© Piper Verlag/ddp

Späte Entdeckung: Ingeborg Bachmanns "Kriegstagebuch"

"Der schönste Sommer meines Lebens": Mit 18 verliebte sich Ingeborg Bachmann, Tochter aus Nazi-Familie, in einen österreichischen Juden. Ihr jetzt erst herausgegebenes "Kriegstagebuch" erzählt diese Geschichte, deren Bedeutung für Leben und Werk der Dichterin kaum überschätzt werden kann.

Zweifellos eine literaturfähige Szene: Da verliebt sich eine Achtzehnjährige, Tochter aus einer Kärtner Nazi-Familie, im Juni 1945 in einen österreichischen Juden namens Jack Hamesh, der in englischer Uniform als Sieger in das Land seiner Kindheit zurückgekehrt ist. Nachdem er ihr die Hand geküsst hat, klettert die Maturantin nachts auf einen Apfelbaum, heult und denkt, „ich möchte mir nie mehr die Hand waschen“, wie sie ihrem Tagebuch anvertraut.

Die Wahrheit, lautet ein viel zitierter Satz Ingeborg Bachmanns, ist dem Menschen zumutbar. Im „Galicien“-Kapitel ihres „Franza“-Romans vertraute die Dichterin aber leider nicht der autobiografischen Wahrheit, sondern ihrer Fantasie. Im Roman ist der Besatzungsoffizier ein englischer Lord namens Percival Glyde, ebenso „lang“ wie „knochig“, nobel wie blass. Ein Jude ist der Oxford-Absolvent, der Franzas erste, mit „zehn Küssen“ besiegelte Liebe wird, offenkundig nicht. Der Roman blieb unvollendet, „das Manuskript“, teilte die Autorin ihrem Verleger mit, „kommt mir wie eine hilflose Anspielung auf etwas vor, das erst geschrieben werden muss“.

Wäre Ingeborg Bachmann die Fertigstellung geglückt, hätte sie sich einfach an ihre Lebensgeschichte gehalten? Hans Höller, der Herausgeber des nun erstmals veröffentlichten, bislang nur ausschnittweise bekannten „Kriegstagebuchs“ der jungen Bachmann, stellt diese Frage in seinem instruktiven Nachwort. Der Leser der kaum zwanzig Druckseiten, die die Zeit vom Spätsommer 1944 bis Juni 1945 umfassen, kommt zu dem Schluss: Die Realität hätte ihr auf jeden Fall die ästhetisch aufregendere Lösung geliefert. Das zeigt schon jener im Tagebuch festgehaltene Moment, als Jack Hamesh („klein und eher hässlich“, lautet der erste Eindruck der Diaristin) im Büro der „Field Security Section“ die junge Frau streng auf Deutsch („mit einem Wiener Akzent“) fragt, ob sie „Führerin“ beim Bund Deutscher Mädel gewesen sei. Wahrheitsgemäß verneint Ingeborg Bachmann, die vor Scham kaum ein Wort herausbringt. Und rot anläuft, als ihr der Gedanke kommt, dass wohl alle im Dorf behaupten werden, nicht dabei gewesen zu sein. „Es ist ganz unverständlich, warum man auch rot wird und zittert, wenn man die Wahrheit sagt.“

Wenige Tage später sind die beiden ein Paar: der österreichische Jude, der 1938 als Achtzehnjähriger mit einem Kindertransport nach England gelangte, und die junge Frau, die sich innerlich schon früh von der „völkischen Gemeinschaft“ distanziert hatte. „Und auf einmal war alles ganz anders“, vertraut sie dem Tagebuch am 14. Juni 1945 an. Es ist die Literatur, das Gespräch über bis eben noch verbotene Autoren wie Stefan Zweig, Schnitzler oder Thomas Mann, aber auch über sozialistische Klassiker, das für kurze Zeit zu einer Brücke wird über den Abgrund, der die beiden trennt.

Nazi-Kind Bachmann trifft 1945 einen Juden in englischer Uniform

„Das ist der schönste Sommer meines Lebens, und wenn ich hundert Jahre alt werde (…) Vom Frieden merkt man nicht viel, sagen alle, aber für mich ist Frieden, Frieden!“ Nachdem ihre Mutter sie vor dem Dorfklatsch gewarnt hat, notiert Ingeborg Bachmann, „ich werde mit ihm zehnmal auf und ab durch Vellach und durch Hermagot gehen, und wenn alles Kopf steht, jetzt erst recht.“

Lange trägt die Brücke aber offenbar nicht, kurz darauf ist Jack Hamesh auf dem Weg nach Palästina. Das „Wort vom Wiedersehen o(der) vom dableiben“, das den sensiblen jungen Mann zurückgehalten hätte, konnte ihm Ingeborg Bachmann, die in Wien Philosophie studieren wollte, offenbar nicht geben. „Leider hast Du noch den Satz in Deinen letzten Brief hinzugefügt“, schreibt ihr Hamesh am 1. November 1946 aus Tel Aviv, „dass es Dir vorkommt als ob alle Brücken hinter Dir gefallen wären. Habe ich wieder in Illusionen gelebt? War unser Zusammenleben nur eine zufällige Episode?“

Als Zivilist wollte Jack Hamesh in Palästina ein neues Leben beginnen. Sein weiteres Schicksal ist unbekannt, Nachforschungen blieben bislang erfolglos. Daher müssen auch Ingeborg Bachmanns Briefe an Jack Hamesh vorerst als verschollen gelten. Dagegen sind die elf Briefe, die Jack Hamesh zwischen Ostern 1946 und Sommer 1947 nach Österreich schrieb und die sich im Nachlass der Autorin gefunden haben, ein weiteres erschütterndes Zeugnis für das, was das Weiterleben derer, die den Holocaust überlebten, bestimmen sollte: „Eine völlige Entwurzelung, eine Haltlosigkeit wie ich sie noch nie zuvor miterlebt hatte, diese letzte Zeit war für mich das schrecklichste was ich je erleben musste“, schreibt Hamesh in seinem in der Emigration unsicher gewordenen Deutsch nur wenige Tage nach seiner Ankunft in Tel Aviv. Ohne Freunde, Familie, Arbeit erscheint ihm die Zukunft als „grauenhaftes Labyrinth, wo es kein heraus mehr gibt.“

Wie ein fragwürdiger Traum erscheint ihm jetzt die kurze Zeit des Zusammenseins in Kärnten, die Freundlichkeit der Einheimischen. „Da tauchen Zweifel auf, hat man in mir den Menschen gesehen oder die Uniform? Hat man mich geachtet oder die Macht, die hinter mir stand?“ Für Hamesh war die Begegnung mit Ingeborg Bachmann „kein bloßes Zusammentreffen“, wie er betont, „für mich war es ein Beweis dass trotz allem was auch über unseren beiden Völkern hereinbrach noch ein Weg gibt – den der Liebe und des Verständnisses.“ Seine Briefe sind die letzten, bewegenden Zeugnisse dieses kurzen Dialogs zwischen einem jüdischen Opfer und einem Kind aus dem Volk der Täter.

Dem heutigen Leser erscheint er in der Tat „wie eine Nachkriegs-Utopie“ (Hans Höller), seine untergründige Bedeutung für Bachmanns Leben und Werk kann kaum überschätzt werden.

Ingeborg Bachmann: Kriegstagebuch. Mit Briefen von Jack Hamesh an Ingeborg Bachmann. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Höller. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 107 Seiten, 15,80 €

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