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Lippenbekenntnisse. Polizisten im verschneiten Birkenwald, eine Fotoarbeit der sibirischen Künstlergruppe Blue Noses (2005).

© Courtesy Diehl, Berlin

Kuss-Ausstellung im Bröhan-Museum: Auf den Mund gekommen

Süßer Skandal: Das Bröhan-Museum zeigt Malerei, Skulpturen, Videokunst und Performances, die sich mit dem Kuss beschäftigen – von Rodin bis Bob Dylan.

Der Skandal war perfekt. Ein küssendes Paar, dazu noch nackt und in ehebrecherischer Liebe einander zugetan. Rodins Skulptur „Der Kuss“ von 1886, das Francesca und ihren Schwager Paolo aus Dantes „Göttlicher Komödie“ zeigt, durfte damals nur hinter Vorhängen ausgestellt und allein von Männern betrachtet werden. Was die Gemüter noch mehr erhitzte: Mit der weiblichen Figur hatte Rodin auch noch seine Geliebte Camille Claudel porträtiert. Den Siegeszug des Kusses in der Kunst konnten weder Skandalon noch Präsentationsbeschränkungen aufhalten, im Gegenteil. Das Werk wurde zum Impulsgeber für ein eigenes Sujet in der jüngeren Kunstgeschichte, das sich weiterhin größter Beliebtheit erfreut.

Die Skulptur selbst, in ihrer Urfassung aus pentelischem Marmor, gehört heute im Pariser Musée Rodin zu den populärsten Werken des Bildhauers. Aus Paris kommt nun auch die verkleinerte Version in Bronze, ein Abgussmodell. Sie eröffnet den Parcours einer hinreißenden Sommerausstellung im Bröhan-Museum, die sich dem Kuss in verschiedenen Medien widmet, in Malerei, Skulptur, Film, Fotografie, Grafik, Werbung. Das Berliner Landesmuseum für Jugendstil, Art Deco und Funktionalismus schöpft aus den Vollen seiner Sammlung, denn mit der Jahrhundertwende begann ein regelrechter Boom in der Darstellung des Kusses. In seiner Emotionalität, Outriertheit, der für das Ornament perfekten Symmetrie zweier einander zugewandter Menschen und der mehr oder minder expliziten Sexualität eignete sich das Motiv perfekt für eine neue Kunst, überhaupt ein verändertes Verhältnis der Geschlechter, ja ein neues gesellschaftliches Selbstbild.

Was Rodin mit seiner Skandalskulptur widerfuhr, sollte sich wenige Jahre später im Film wiederholen. Dabei ist der erste Leinwandkuss harmlos. Das Paar plaudert zunächst eng umschlungen, dann zwirbelt sich der Herr entschlossen seinen Schnurrbart, die beleibte Dame wendet sich ihm temperamentvoll zu, und los geht’s. Der 1896 in den USA uraufgeführte Schmatz dauert gerade 20 Sekunden und rief doch die Moralapostel auf den Plan. Den Erfolg des Streifleins verhinderte auch das nicht. „The Kiss“ wurde zu Edisons meistgespieltem Film in den 1890ern, mit Applaus bedacht auf den Jahrmärkten, wo damals das Kino noch stattfand.

Die innige Geste wird zum Testfall für die Politik

Die von Anna Grosskopf eingerichtete Ausstellung wendet sich in neun Kapiteln verschiedenen Themen zu, den Todesküssen, den Obsessionen, den Küssen auf Papier und entwickelt nicht nur eine Typologie, sondern auch ein Sittengemälde. Dass sogar Bob Dylan mit einem eher mäßigen Gemälde Aufnahme findet und mit im Ausstellungstitel prangt, mag der unter dem neuen Direktor Tobias Hoffmann betriebenen Popularisierung des Museums geschuldet sein. Sein Publikum dürfte die charmante Schau auch ohne diesen Trick gefunden haben, denn sie geht nicht nur in die Tiefen des eigenen Depots mit Klassikern wie Peter Behrens’ Farbholzschnitt von 1898 für die Jugendstil-Zeitschrift Pan, bei dem sich die Haare der Küssenden geradezu psychedelisch umschlingen. Sie geht mit Leihgaben auch in die Breite und macht Abstecher zu Lebensreform und Gesundheitsfragen um die Jahrhundertwende.

Während Künstler wie Fidus mit ekstatischen Darstellungen – Flammen züngeln, Sterne kreisen, der Kosmos vibriert – die rigiden Moralvorstellungen des Kaiserreiches provozierte oder das Mundwasser Odol in seiner Werbung Schmusern frischen Atem versprach, warnten die Mediziner drastisch vor den Gefahren. Aus dem Dresdner Hygienemuseum kommen zwei anatomische Modelle aus Wachs: der Kopf eines jungen Mädchens mit Geschwür an der Oberlippe und eines jungen Mannes mit Furcht erregenden Spuren der Syphilis im Gesicht, die sich beim Küssen infiziert haben sollen.

Die innige Geste wird zum Testfall auch für die Politik, denn wer wen küssen darf, kann ethischen, religiösen Fragen unterliegen. Der israelische Fotograf Ilya Melnikov startete 2016 für das Magazin „Time Out“ die Kampagne „Jews & Arabs Kiss“, nachdem das Kulturministerium das Buch „Geder Chayah“ vom Lehrplan nahm, das von einer Liebe zwischen einer Jüdin und einem Palästinenser handelt. Als politisches Statement gehörte der sozialistische Bruderkuss zwischen Staatsoberhäuptern eigentlich nur auf die Wange. Bei Breschnew und Honecker verrutschte er nach reichlich Wodka-Genuss jedoch so spektakulär, dass die beiden sich unversehens knutschten. Das Bröhan-Museum zeigt die Vorlage von Dimitry Vrubels berühmtem Gemälde für die East Side Gallery: eine Doppelseite aus Paris Match, die der Künstler quadrierte und dann metergroß auf das Stück ehemaliger Mauer übertrug.

Nezaket Ekici mit einer Performance am Tag des Kusses

Zu den mitreißendsten Beiträgen der Ausstellung gehört die nur anderthalbminütige filmische Aufzeichnung einer höchst provokanten Aktion der Moskauer Künstlergruppe „Woina“ vor sechs Jahren. Die Mitglieder des Kollektivs küssten in der Moskauer U-Bahn überfallartig uniformierte Polizisten. Das anarchische Herzen ironisierte die Brutalität des Regimes. Heute würde man ein Attentat vermuten. Ambivalenz liegt auch über der Fotografie „Eine Epoche der Begnadigung“ der sibirischen Künstlergruppe Blue Noses mit zwei küssenden Polizisten im verschneiten Birkenwald von 2005. Prompt verbot der russische Kulturminister die Ausfuhr des Bildes zu einer Pariser Ausstellung – das Bild würde Schande über Russland bringen.

Um Zartheit, Sinnlichkeit wie noch bei Axel Poulsens marmorner Skulptur „Erste Liebe“ von 1909 geht es bei den politisch motivierten Arbeiten längst nicht mehr. Das zeigt sich auch bei den feministischen Beiträgen seit den 60ern. Die Französin Orlan bot 1977 auf der Pariser Kunstmesse als Performance Küsse für 5 Francs feil , um auf den Zusammenhang eines Daseins als Künstlerin und Prostitution zu verweisen. Dorothee von Windheim dagegen hegte 2010 keine bösen Hintergedanken, als sie zum Abschluss ihrer Lehrtätigkeit an der Hochschule in Kassel Petit-fours mit einem Kussmund reichte. Die Graubner-Schülerin hatte auch sonst im Rahmen ihrer künstlerischen Tätigkeit viel auf Papier, Stofftüchlein, Porzellanbecher geküsst.

Mit dem Furor einer Aktionskünstlerin setzt Nezaket Ekici diese Idee fort und wird vom 4. bis zum 6. Juli, dem offiziellen Tag des Kusses, ihre Performance „Emotion in Motion“ wiederholen und einen Raum mit Tisch, Stühlen, Spiegel, Garderobenständer bis zur Erschöpfung mit Kussmündern überziehen. Romantische Gefühle sind da unerwünscht.

Bröhan-Museum, Schlossstr. 1a, bis 3. 10.; Di bis So 10 – 18 Uhr. Katalog , erschienen im Wienand Verlag, 19,80 €.

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