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Martin-Kippenberger-Retrospektive: Jeder Künstler ist ein Mensch

Der Hamburger Bahnhof öffnet sich mit "sehr gut | very good" dem Riesenwerk des Martin Kippenberger – und wagt eine posthume Verbeugung, die jedoch einerseits für die Berliner zu spät kommt, andererseits überstürzt wirkt. Es fehlt Vertiefung und die Erklärung der Querbezüge in diesem an Anspielungen so reichen Werk.

Es hat verdammt lang gedauert. Jetzt hat er es in die Hauptstadt geschafft. Ein Museum feiert ihn, zelebriert seinen runden Geburtstag. Oder ist es nicht vielmehr umgekehrt? Berlin hat es endlich vollbracht, Martin Kippenberger in den Kanon der Kunstgeschichte aufzunehmen – 16 Jahre nach dem frühen Tod des damals 44-Jährigen. Der Ausstellungstitel „sehr gut/very good“ spielt mit dieser Ambivalenz. Die ironische Bestnote gilt für beide Seiten: für den Künstler wie den Hamburger Bahnhof mit seiner Werkschau zu Kippenbergers Sechzigstem, die heute Abend eröffnet wird.

Superleistung, 1 A, es lobt einen ja sonst keiner – kalauert diese Überschrift. Würde Kippenberger noch leben, so hätte er noch einen daraufgesetzt, das ist gewiss. „Titel kloppen“ war nur eines seiner vielen Talente, denen das Berliner Museum für Gegenwart eine Bühne gibt.

„Sehr gut / very good“ zitiert eine Bilderreihe von 1991/92, die – abseits der eigentlichen Schau in den Rieckhallen – im ersten Stock des historischen Bahnhofsgebäudes zwei Säle einnimmt. Kühl, fremd, geradezu konzeptuell sind sie, echte Außenseiter – und doch von einer Komplexität, einer Frechheit, einem umwerfenden Esprit, eben klassische Kippenberger. In den elf vollkommen weißen Leinwänden, fugenlos eingelassen in die blanke Museumswand, sind Beschreibungen seiner Bilder durch einen Sechsjährigen mit kindlicher Schrift und Rechtschreibfehlern in weißer Lackschrift aufgetragen: „Ein Raum foller Lichter“, „Ein neues Gebeude“, „Ein Alter der auf das Bild kotzt“. Schmunzeln, Ärgern, Staunen, Emphase und Entdecken verborgener Schönheit evozieren diese als Projektionsflächen dienenden monochromen Gemälde, eine typische Abfolge von Gefühlsregungen bei der Betrachtung eines Kippenberger-Werks. Man meint sogar, den Künstler lachen zu hören, wie er sich über den Museumsbetrieb lustig macht, den White Cube und dessen Aura des Aseptischen, denn seine Bilder, Skulpturen, Installationen gleichen sonst eher Rumpelkammern, vollgestopft mit den Turbulenzen des Lebens.

Die 300 Arbeiten umfassende Werkschau im Hamburger Bahnhof erzählt nicht nur die Geschichte seines überbordenden Schaffens, als Maler, Bildhauer, Schauspieler, Musiker, Tänzer, Club-Betreiber, Publizist und Entertainer, sondern auch die seines schmerzlichen Fehlens. Ähnlich stellt sich bei Beuys-Retrospektiven jedes Mal die Frage, ob ein solches Unternehmen überhaupt gelingen kann ohne die Anwesenheit dieser prägenden Persönlichkeit. Die Antwort des Kunstbetriebs lautet eindeutig: ja, sogar besser noch. Das zeigt sich am kometenhaften Anstieg seiner Preise seit dem Tod, bis hin zum Millionenrekord 2009 für das von einem Plakatmaler angefertigtes Gemälde der „Paris Bar“, außerdem an all den posthumen Würdigungen in London, Wien, Eindhoven, Düsseldorf, Los Angeles und New York. Das Museum, mit dem der provokative Künstler zu Lebzeiten auf Kriegsfuß stand, auch wenn er sich nach dessen Anerkennung sehnte, hat in ihm seinen neuen Helden.

Martin Kippenberger selbst ließ keinen Zweifel daran, dass er sich auf Augenhöhe mit den Großen der Kunstgeschichte sah. Kess inkorporierte er Beuys in sein Werk, indem er dessen Filzanzug für ein Fotoshooting trug. Der setzte kurzerhand seinen Stempel „Wählt die Grünen“ auf das Plakat, als wollte er das letzte Wort behalten. Auch Picasso wurde von Kippenberger einverleibt, indem er wie der Jahrhundertkünstler in Feinrippunterhosen auf den Selbstporträts posierte. Am Ende nahm er es sogar mit dem Historienmaler Géricault auf und schuf einen Zyklus zum „Floß der Medusa“. Die ergreifenden Fotografien des gealterten, aufgedunsenen Künstlers in den Posen der Überlebenden und die auf dieser Grundlage entstandenen intensiven Selbstporträts gehören zu den letzten Werken des Künstlers, der hier ganz offensichtlich sein eigenes Ableben vor Augen hatte. Dass dieses Wechselspiel zwischen ihm und kunsthistorischen Größen in der Berliner Ausstellung eine so wichtige Rolle spielt, wirkt nicht nur wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung des Künstlers, sondern auch wie eine weitere Rechtfertigung des Museumsbetriebs. Es ist zugleich eine Anrufung seiner wichtigsten Zeugen, um die Würdigung zu legitimieren.

Für Berlin kommt diese Hommage einerseits zu spät, es ist seine erste in der Stadt, zugleich wirkt sie überstürzt. War zunächst vorgesehen, auf Kippenbergers Schaffen in der Mauerstadt zwischen 1978 und 1981 vornehmlich einzugehen, wo er nach der Hamburger Studienzeit und einem Florenz-Aufenthalt sein künstlerisches Vokabular entwickelte, wird nun die ganze Spannbreite vorgeführt.

Kuratorische NonchalanceEine Retrospektive, die formalistisch Lebensstationen absolviert, soll es laut Nationalgalerie-Direktor Udo Kittelmann trotzdem nicht sein, sondern eine Schau in Kapiteln etwa zu den Themen Frauen, Selbstporträts, religiösen Motiven wie den gekreuzigten Fröschen, die ein Herrgottsschnitzer produzierte. Ein Katalog muss deshalb fehlen, erklärte Kittelmann. Die Ausstellung entstand prozessual, ohne dass man sich Monate vorher auf bestimmte Arbeiten festgelegt hätte.

An vielen Stellen ist diese kuratorische Nonchalance zu spüren, es fehlt an Vertiefung, Erklärung der Querbezüge in diesem an Anspielungen so reichen Werk. Was vorbildlich bei den elf weißen Bildern geschieht, die Kittelmann für das Haus zu erwerben hofft und die zunächst ein Jahr installiert bleiben sollen, vermisst man bei anderen Komplexen ganz. Von einem Museum ist mehr zu erwarten. Für eine wirklich große Schau hätten noch andere wichtige Werke hinzukommen müssen, etwa die gewaltige Installation „The Happy End of Franz Kafka’s Amerika“ oder die Sozialkistentransporter aus Europaletten in Gestalt einer venezianischen Gondel.

So wird die Ausstellung zu einem Freiflug durch den Kippenberger’schen Kosmos mit den Rieckhallen als großer Landebahn. Ihm selbst könnte das gefallen haben, denn Leben und Kunst verflechten sich hier ineinander. Mit seiner Verdrehung des berühmten Beuys-Zitats, „Jeder Künstler ist ein Mensch“, der Überschrift des ersten Saals , ist das Dilemma genannt. Das Museum will den Künstler, aber nicht den Menschen. „Martin ab in die Ecke und schäm dich“ (1989) heißt seine wohl bekannteste Skulptur, ein lebensgroßer Abguss des erwachsenen Malers in Hemd und Hose, der gebeugten Hauptes wie ein kleiner Bub tatsächlich in der Ecke steht. Wie viel Kampf seine Dauerrenitenz bedeutete, wie viele Niederlagen dieses ewige Kind einzustecken hatte, lässt sich daran erahnen.

Schon zeichnet sich ab, was von dem ausufernden Werk bleiben wird, das im Hamburger Bahnhof in allen seinen Facetten zu sehen ist. Dass er als Schauspieler wenig taugte, ahnte er selbst, die hölzernen Bewegungen im einzigen mit ihm gedrehten Spielfilm offenbaren es. Als Publizist von Karten, Kalendern, Plakaten, Büchern, ja selbst Aufklebern versendete er sich mit vollen Händen. Heute sind es kostbare Reminiszenzen. Als Musiker, der nie ein Instrument erlernte und mit Hingabe dilettierte, wäre er mit seiner Punk-Band „Die Grugas“ noch zu entdecken. In einem Kabinett hat Gudrun Gut Einspielungen aus Kippenbergers Berliner Zeit zusammengestellt, ein Foto zeigt ihn als Schlagzeuger.

Als Maler wurde Kippenberger lange nur unter seinen bad paintings, den rasch hingehauenen Gemälden mit den genialen Titeln, subsumiert, als Trash der Achtziger. Heute weiß man, Kippenberger konnte malen, das zeigen die Medusa-Bilder schmerzhaft klar. Und er erfasste die Empfindsamkeiten seiner Zeit mit scharfem Blick, wenn er einem abstrakten Bild aus lauter Balken den schlagenden Titel gab „Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz entdecken“ (1984).

Als Zeichner wird er nach den Auktionserfolgen der Gemälde noch Furore machen. Die kleine Form lag dem Rastlosen ebenso sehr. Seine Zeichnungen auf Hotelpapier beschreiben ein Leben zwischen Atelier und Tresen, immer unterwegs. Der Zyklus mit den Grundrissen seiner 64 Adressen, die er – angefangen mit dem Kinderzimmer in Essen-Frillendorf – im Laufe der Zeit rund um den Globus hatte, entstand auf den Rechnungen einer Bar im brasilianischen Bahia. Die Drinks waren der Treibstoff seiner Reise.

Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50/51, Eröffnung heute abend um 19 Uhr, bis 18. August; Di/Mi/Fr 10-18, Do 10-20, Sa/So 11-18 Uhr. Am 5. März findet um 19.30 Uhr im Tagesspiegel eine Einführung in und Diskussion zur Kippenberger-Ausstellung u. a. mit Susanne Kippenberger, der Schwester des Künstlers, und Nationalgalerie-Direktor Udo Kittelmann statt.

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