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Humanität und Horror. Der australische Autor Richard Flanagan.

© Peter von Felbert/Piper

Richard Flanagan und sein Kriegsroman: In jedem von uns sind viele

Die Hölle zwischen Siam und Burma: Richard Flanagans preisgekrönter Kriegsroman „Der schmale Pfad durchs Hinterland“.

Zwölf Jahre lang hat der tasmanische Schriftsteller Richard Flanagan versucht, diesen Roman zu schreiben. Über das gewaltige Unterfangen der Japaner, im Zweiten Weltkrieg eine Eisenbahntrasse von Siam nach Burma zu bauen. Mitten durch den Dschungel. Todeslinie hieß die Strecke. 90 000 asiatische Zwangsarbeiter sollen dabei ums Leben gekommen sein und Tausende von Kriegsgefangenen.

Fünf Mal hat Flanagan versucht, den Stoff in den Griff zu bekommen. Fünf Versionen von „Der schmale Pfad durchs Hinterland“ hat er verworfen, die sechste endlich ließ er gelten und gewann mit ihr im letzten Jahr den Man Booker Prize, die wichtigste englische Literaturauszeichnung. Es ist ein Camp des tropischen Schreckens, in das Flanagan uns führt. Ein schmutziges, stickiges, nach oft wochenlangem Dauerregen verschlammtes Loch mit Krüppelhütten, in denen ausgezehrte Kriegsgefangenen schuften und siechen. Es gibt kaum etwas zu essen, kaum Medikamente. Die Männer sind mit Geschwüren übersät, von Cholera durchseucht, von Läusen zerbissen. Manche sind nur noch Knochengerüste, mit Fetzen von stinkendem Fleisch behängt. Die Latrinen sind ein Grauen, Exkremente überall. Es ist ein höllisches Szenario, das Flanagan hier beschreibt. Sein Vater ist dort gewesen und hat als einer der wenigen überlebt. Ihm ist der Roman gewidmet: „für den Gefangenen san byaku san ju go (335)“. Er starb just an dem Tag, an dem Flanagan das Buch beendete.

Richard Flanagans Held ist ein Täuscher. Aber er redet für die Toten

Militärische Strukturen lösen sich auf, aber die australischen Gefangenen brauchen jemanden, dem sie vertrauen können. Und so sieht sich der junge Chirurg Dorrigo Evans bald in der Rolle des Anführers. Er tut alles, um seine Männer zu retten. Flößt ihnen mehr Hoffnung als Tropfen ein, verhandelt mit den japanischen Aufsehern, amputiert bei Taschenlampenlicht, bezwingt die eigene Schwäche. Später wird er als Kriegsheld gefeiert werden. Sein Konterfei ziert Banner und Münzen. Er hält Vorträge, sitzt in Talkshows. Und weiß doch, dass er immer wieder versagt hat beim Versuch, das Erlittene zu erzählen.

So, wie er versagte, als er seine Männer nicht beschützen konnte, als sie ihm unter den Händen wegstarben oder von gelangweilten Aufsehern zu Tode geprügelt wurden.

Ein Held? Eher kommt er sich vor wie ein Täuscher. Und doch redet er. Für die Toten. Vielleicht auch für sich. Eigentlich ist ihm alles egal. Der Ruhm, seine Frau, seine Kinder, die Geliebten – er ist ein Schürzenjäger. Lebendig ist er nur in der Erinnerung an Amie, die Frau seines Onkels. Die einzige Frau, die er je geliebt hat. An der er alles liebte. Amie war er verfallen. Mit einer zitternden, sinnlich explodierenden, ratlosen Leidenschaft. Mit wildem Begehren und rasenden Fluchtgedanken. Er könnte sich ja verlieren in ihr. Stattdessen verliert er sie. Und lebt fortan nicht nur in der Hölle des Krieges und seiner Erinnerungen, sondern auch in der Hölle der Liebe. Denn Amie ist tot. So hat es ihm seine Frau erzählt. Das einzige Mal, das sie ihn je belogen hat.

Liebe und Gewalt

Flanagan, 1961 im australischen Longfor geboren, hat ein Kriegs- und ein Geschichtsbuch geschrieben, filigrane psychologische Studien und einen Liebesroman. Das vor allem wird der Autor nicht müde zu betonen in den vielen Interviews, die er gegeben hat. Dorrigo Evans sei nicht am Krieg zerbrochen und an der Gefangenschaft, sondern vor allem daran, Amie verloren zu haben. Es ist ein gewaltiges Buch. Grausam in seinen Details der Qualen und des Sterbens und zugleich leuchtend in seiner Menschlichkeit.

Oder um es mit Walt Whitman zu sagen, den Flanagan gern zitiert: „I contain multitudes“ – in mir sind viele. Das vor allem, so scheint es, hat Flanagan fasziniert. Der Mensch in seiner Vielfältigkeit. Und so begleiten wir nicht nur Dorrigo Evans und seine Männer in den Schrecken, sondern kriechen auch in die Köpfe der Folterer und Mörder des Camps, begreifen, wie sie erzogen wurden zur Erbarmungslosigkeit und gedrillt in absolutem Kaisergehorsam. Sie schinden die gefangenen Sklaven, um den Auftrag zu erfüllen. In mir sind viele.

So ist der brutale japanische Lagerkommandant ein Kenner von Haiku-Versen und zitiert sie ausgerechnet im Duett mit dem Mann, dem es nur gut geht, wenn er ab und an einen Menschen enthaupten kann. Mit elegantem Schwertschwung. Als Erstes schaut er Menschen nicht ins Gesicht, sondern auf den Nacken. Und rechnet aus, wie weit der abgeschlagene Kopf wohl rollen wird. Der Lagerkommandant wird nach dem Krieg als als sanfter Mann im Kreise seiner Familie leben.

Richard Flanagan hat viel recherchiert für dieses Buch. Und hat gestaunt, wie das Böse sich wandelt, sich verbirgt oder gar verschwinden kann aus einem mörderischen Menschen. Es gibt Momente am Ende dieses großen Buches, in denen es erzählerisch Kapriolen schlägt, um zu imponieren. Und es gibt Momente, in denen sich der Kitsch hineinschleicht. Aber wie im richtigen Leben, ist es eben auch in der Literatur so, dass manchmal die eine rote Blume im Schlamm Trost spendet.

Richard Flanagan: Der schmale Pfad durchs Hinterland. Roman. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Piper Verlag, München 2015. 448 Seiten, 28 €.

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