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Kultur: Schulter an Schulter

Die deutsch-türkische Verlegerin Selma Wels über die Ursachen für Unmut und Unruhen.

Als Atatürk 1923 die türkische Republik gründete und Staat und Religion getrennt wurden, mussten sich viele über Nacht anpassen. In öffentlichen Einrichtungen wurde etwa das Tragen von Kopftüchern verboten; und die Streitkräfte besaßen große Macht, weil der hoch dekorierte General Reformen nach militärischem Vorbild durchführte. Dennoch formte er eine moderne, westlich orientierte Gesellschaft. Sabiha Gökçen etwa war die erste Pilotin der Türkei – und die erste Kampfpilotin weltweit. Und das in einer Zeit, in der Frauen in vielen europäischen Ländern nicht mal das Wahlrecht besaßen.

Premier Erdogan erkannte die Bedürfnisse des einfachen Volkes, er gibt sich populistisch. Wenn man das Ergebnis der letzten Wahlen anschaut, hatte er damit Erfolg. Auch deshalb dauerte es so lange, bis der Unmut sich Bahn gebrochen hat, nachdem 2011 die ersten Stimmen warnten, er sei ein Unglück für die Türkei. Wegen der Eingriffe in die Privatsphäre, Internetzensur, Alkoholverbot, Appellen, wie viele Kinder man auf die Welt zu bringen habe, Einschränkungen der Pressefreiheit. Erdogans Beratungsresistenz führte auch zur Spaltung seiner AKP-Partei. Die Macht, die er dem Militär entzog, hat er nicht dem Volk zurückgegeben, sondern sich Stück für Stück selbst angeeignet.

Warum haben sich die Proteste gerade jetzt ausgeweitet? Es geht nicht mehr um die Bäume im Gezi-Park, die einem Einkaufszentrum weichen sollen. Die Menschen wollen gehört werden und begegnen erschreckender polizeilicher Gewalt. Die staatlichen Medien zeigen lieber Dokumentationen über Pinguine und scheuen sich zu berichten. Durch seine Drohungen hat Erdogan für einen noch größeren Zusammenhalt gesorgt. Die sonst verfeindeten Lager, die Ultra-Fanblöcke der Istanbuler Topvereine, Kurden, Kemalisten, Aleviten, Reiche, Arme, sie stehen nun Schulter an Schulter auf der Straße. Ankara ist ebenso betroffen, die ganze Türkei geht auf die Straße.

Ich glaube nicht, dass diese Bewegung auf Dauer unterdrückt werden kann. In der Türkei geschieht gerade etwas Einmaliges; nach der Räumung des Taksim-Platzes und des Gezi-Parks wird keiner nach Hause gehen und weitermachen können wie bisher. Wenn eine Regierung ihr Volk mit Gewalt auseinandertreibt, wenn sie keine Rücksicht darauf nimmt, dass sich im Park Kinder aufhielten, wenn Krankenhäuser und das Divan Hotel am Taksim, wo im Kellergeschoss Ärzte die Verletzen behandelten, attackiert werden, dann wird das nur noch mehr Menschen auf die Straßen treiben. Ich hoffe von Herzen, dass die Gewalt nicht weiter eskaliert. Ich bin stolz auf diese mutigen Menschen. Das türkische Volk beweist mehr als je zuvor, wie sehr es einer EU-Mitgliedschaft würdig ist.

Selma Wels betreibt seit 2011 mit ihrer Schwester Inci Bürhaniye in Berlin den Binooki Verlag, der türkische Gegenwartsliteratur verlegt. Infos: www.binooki.com

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