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Kultur: Stacheldraht mit Trauerkranz

Siebzig Jahre Zeitgeschichte: Wie der große Fotograf Jürgen Schadeberg Berlin gesehen hat.

Was zuerst auffällt, wenn man die Fotos betrachtet, die Jürgen Schadeberg im Herbst 1961 in West-Berlin gemacht hat, ist die Leere. Gerade ist die Mauer gebaut worden, die Halbstadt war abgeriegelt, aber Platz gab es offenbar genug. Auf dem Kurfürstendamm laufen Kinder Rollschuh. Im Hintergrund spazieren alte, missmutig dreinblickende Männer vorbei. Ein Junge muss sich an einer Laterne festhalten. Am Bahnhof hockt ein Losverkäufer vom Roten Kreuz, auf seinem Zylinder klebt ein Werbezettel: „Gewinne für 1 1/4 Millionen Mark.“

Gottverlassen wirkt die Bernauer Straße, die Fenster ehemaliger Mietshäuser sind zugemauert. Nur eine Frau in Witwenuniform – schwarzer Mantel, schwarzer Hut, schwarze Handtasche – ist zu sehen. Sie steht vor einem improvisierten Mahnmal für ein Maueropfer, stacheldrahtumwickelten Holzpfeilern mit Trauerkranz. Irgendwo lungern Halbstarke um ein Mofa herum. Ein britisches Patrouillefahrzeug fährt an Tauben vorbei, die am Wegesrand picken. Und ein Polizist begibt sich ganz ans Ende des französischen Sektors und beugt sich tief hinab, um durch einen Spalt im frisch gemauerten antifaschistischen Schutzwall in den Osten zu spähen. Die Bildzeile lautet: „Das Auge des Gesetzes“.

Schadeberg, 81, erinnert sich an eine beklemmende Atmosphäre in der geteilten Stadt. „Ich dachte, ich wäre in der Mitte eines Pulverfasses, die ganze Welt könnte von hier aus in die Luft fliegen“, erzählt er. „Doch die Berliner schienen davon unberührt. Sie haben wenig geredet, es war wie die Ruhe vor dem Tod.“ Und die Stadt war voller alter Menschen. „An der Mauer wollte keiner vorbeigehen, sie gingen immer auf der anderen Straßenseite. Die hatten Angst, dass da eine Hand rauskommt und sie rüberzieht.“

Der Fotograf ist gebürtiger Berliner, aber damals machte er nur eine Stippvisite. 1950 war er nach Johannesburg gezogen, wo er als einer von wenigen Weißen bei dem schwarzen Lifestyle-Magazin „Drum“ anheuerte. Seine Reportagefotogafien aus dem Apartheidsstaat, Porträts von Politikern wie Walter Sisulu und Musikern wie Miriam Makeba sollten ihn berühmt machen. Mit Nelson Mandela ist er bis heute befreundet. Nach West-Berlin kam Schadeberg 1961 per Zufall, weil er für einen Auftrag nach Skandinavien geschickt worden war. Sein Besuch dauerte bloß eine Woche, doch in dieser Woche hat er unentwegt fotografiert. Die erste Aufnahme entstand am Flughafen, sie zeigt die Rückenansichten gerade gelandeter Passagiere, die auf ihr Gepäck warten. Über ihnen hängt ein Schild: „Welcome to Berlin“.

„Zu Besuch in Deutschland“ heißt der Band, der Fotos von Schadeberg aus den Jahren 1942 bis 2012 versammelt. Zu besichtigen sind siebzig Jahre Zeitgeschichte aus einer sehr persönlichen Perspektive. Für Tagespolitik hat sich Schadeberg nie sonderlich interessiert, seine Aufmerksamkeit galt dem Alltag und den Brüchen und Veränderungen, die sich darin spiegeln. Auf der ersten Aufnahme hockt eine Hausgemeinschaft feucht- fröhlich im Luftschutzbunker. Man trinkt Flaschenbier, ein Mann spielt Akkordeon. „Das war 1942, da fielen noch nicht viele Bomben, die Angst war nicht so groß. 1943/44 wurde es schlimmer.“

Die Leute auf dem Foto sind Schadebergs Nachbarn aus dem Haus, in dem er aufwuchs: Kurfürstendamm 133. Über seine Mutter, eine Theaterschauspielerin, kam er mit dem Fotografen Erich Kröger in Kontakt. Nach dem Krieg absolvierte er ein Volontariat bei der Deutschen Presseagentur in Hamburg.

Als „Innenblick von außen“ beschreibt Schadeberg seine fotografische Sicht auf Deutschland. Es ist nicht immer ein sympathisches Land, das sich auf diesen Bildern präsentiert. 1966 besuchte Schadeberg für den britischen „Telegraph“ den Parteitag der NPD. Auf dem Podium: grauhaarige Herren mit verknöcherten Gesichtern. Vor der Halle: Demonstranten mit „Denkt an Dachau“-Schildern. Bei einem Neonazi-Aufmarsch im Teutoburger Wald heben Trenchcoat- und Uniformträger Fackeln in die Nacht.

Aber der Fotograf dokumentiert auch das neue jüdische Leben in Deutschland. Tanzende Paare beim Purimfest der Jüdischen Gemeinde in West-Berlin, Orthodoxe im Charlottenburger Straßenbild. Sonnendurchflutet ist das Ost-Berlin, das Schadeberg in den achtziger Jahren fotografierte. Kinder baden im Märchenbrunnen am Friedrichshain, am Alex gibt es Blasmusik und eine Warteschlange vor dem „Centrum“-Kaufhaus. Auf einem Kirchengrundstück geriet der Fotograf in ein Punkkonzert. Fröhliche Ekstase. „Außen saß die Stasi in den Autos.“

Jürgen Schadeberg hat in Südafrika, London, New York und zuletzt in einem Dorf in der Normandie gelebt. Vor anderthalb Jahren ist er nach Berlin zurückgekehrt und teilt sich jetzt mit seiner Frau Claudia – einer Filmproduzentin – und dem Fotoarchiv eine große Wohnung in Wilmersdorf. Im neuen Berlin fühlt er sich „ein bisschen fremd“. Er klagt über die öde Architektur am Potsdamer Platz und darüber, dass die „echten Berliner“ ausstürben. Kaum noch jemand könne authentisch berlinern. Das alles erzählt der Fotograf am Telefon, denn den Winter verbringt er mit seiner Gattin in Spanien, in einem eigenen Haus bei Valencia. Er arbeitet am nächsten Bildband.

Jürgen Schadeberg: Zu Besuch in Deutschland 1942–2012, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2012. 160 S., 24,95 €

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