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Auch er war schon streitbare Koryphäe: Der verstorbene Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki.

© Frank Rumpenhorst dpa/lhe

Stand der Literaturkritik: Ewige Krise klingt gut

Jörg Sundermeier vom Verbrecher Verlag attestiert der Literaturkritik eine Krise. Gerrit Bartels nimmt es gelassen.

Vor einer Woche erschien im Branchenmagazin „Buchmarkt“ ein sogenanntes Sonntagsgespräch mit dem Verleger des Berliner Verbrecher Verlags, Jörg Sundermeier. Darin bescheinigte dieser der Literaturkritik eine schwere Krise. Sie habe keinen Intellekt, keine Haltung und keine Kriterien mehr, lese nicht mehr richtig, mache nur noch die großen, die skandalträchtigen Bücher oder Schriftstellerhausbesuche, befinde sich in einem „Kumpelsystem“ und sei deshalb nicht mehr in der Lage, Kritik an sich selbst zu üben, so Sundermeier in seinem Rundumschlag.

Ach herrje, denkt man zunächst, bitte nicht schon wieder! Die Literaturkritik und ihre Krise – seit Jahr und Tag ist davon die Rede, in regelmäßig wiederkehrenden Zyklen, eigentlich seitdem es Literaturkritik gibt. Und dann fragt man sich, ob die Auseinandersetzung lohnt? Ob man nicht seinerseits, ganz polemisch, versteht sich, beispielsweise einmal auf die vielen nicht guten und nicht schlechten Bücher verweisen soll, die die Verlage ohne Unterlass und in hoher Frequenz veröffentlichen, auf das viele Mittelmaß? Und dass das Folgen für die Literaturkritik hat – soll doch nicht alles in die Tonne getreten werden! (Ja, richtig, und die Beißhemmung bei kleinen Verlagen, wenn diese miese Bücher veröffentlichen, ist größer als bei den großen, dann lieber schweigen. Die „komplexen und umfangreichen Bücher“, die Sundermeier „angemessen“ gewürdigt und rezensiert sehen will, sind nicht die Regel). Ach, und dann meint man sich zu erinnern, früher als bloß Literaturinteressierter viele unleserliche, vermeintlich intellektuelle Literaturrezensionen gelesen zu haben – und dass die Literaturkritik heute um vieles besser geschrieben ist, verständlicher, ohne antiintellektuell zu sein?

Jörg Sundermeier hat bildungsbürgerliche Sehnsucht

Man könnte darauf hinweisen, dass sich die Kritik der Literatur und Schriftstellerinterviews und -porträts nicht ausschließen: Warum sich nicht mit einem Autor, einer Autorin zu einem Gespräch treffen? Literatur lässt sich auf vielen Wegen vermitteln, bei solchen Gesprächen kommen schon mehr als ein paar Werbesätze heraus. Und kein Kritiker macht eine „Homestory“ über einen Autor, dessen neues Buch er misslungen findet.

Tatsächlich scheint bei dem Verbrecher-Verleger eine schön bildungsbürgerliche Sehnsucht nach der ultimativen literaturkritischen Instanz durch. Nach Katheder-Kritikern, die nichts anderes tun als Bücher lesen und am Schreibtisch Rezensionen schreiben – und die es heutzutage in dieser Form halt nicht mehr gibt. So wie es kaum noch Schriftsteller und Schriftstellerinnen gibt, die nichts anderes tun als schreiben: Nach der Veröffentlichung eines Buches beginnt der nächste, völlig andere Arbeitsschritt, nämlich die Vermarktung des eigenen Buches. Und da kommen wieder die Kritiker ins Spiel, und zwar nicht als Rezensenten: als Moderatoren von Lesungen beispielsweise, als Laudatoren, wenn es Literaturpreise gibt. Gern wird da auf bewährte Kräfte zurückgegriffen, die wissen, wovon sie reden: Vermittlung ist hier wieder das Stichwort – und durchaus im Sinn des Lesers, nicht gegen ihn.

Das Berufsbild Literaturkritiker verändert sich

Kurzum: Das Berufsbild des Kritikers wie das des Schriftstellers verändert sich. Dabei gibt es eine Entwicklung vom Ausgefeilt-Schriftlichen hin zum Spontan-Mündlichen. Dass Kritiker zunehmend eigene Bücher veröffentlichen – und nicht nur Sachbücher oder Sammlungen ihrer Rezensionen, sondern auch Romane –, passt ins Bild. Wie immer man das wieder finden mag, was für Abhängigkeiten daraus nun resultieren oder nicht (gefeit gegen Verrisse oder Ignoranz sind ja Kritikerbücher nicht, Blurbs hin, wohlmeinende Kollegenbesprechungen her), welche – im Übrigen vielfältigen – Gründe es dafür gibt. Über all das ließe sich gewissermaßen „nach vorn“ debattieren, nicht in Form eines isolierten Bashings der Literaturkritik, dass Verlage, Schriftsteller und die Branche und ihren Wandel außen vor lässt.

Andererseits ist es wieder so: Wenn es dereinst einmal keine Rundumschläge mehr wie jenen von Sundermeier geben, ihr keine Krise mehr attestiert werden sollte, dann muss die Literaturkritik sich wirklich Sorgen machen.

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