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Der Theaterkritiker, Schriftsteller und Essayist Alfred Kerr wurde vor 150 Jahren in Breslau geboren. Er starb 1948 in Hamburg.

© Foto: Rauchwetter/picture-alliance /dpa

Texte von und über Alfred Kerr: Im Anfang war sein Wort

Großer Liebender, großer Hasser: In der Kolumne "Fundstücke" geht es diesmal um den wortmächtigen Kritiker und Schriftsteller Alfred Kerr.

Er war ein Kerrl, ja, mit zwei „rr“. Unter den Kritikern ein Klassik-err. Kürzlich, an Weihnachten, hat er im Himmel oder womöglich in der Hölle, wie einige Opfer seiner Kritiken wohl vermuten würden, den 150. Geburtstag gefeiert. Er war ein jüdisches Christkind, das zumindest hatte Alfred Kempner, der Breslauer Weinhändlersohn, der sich später kürzer Kerr nennen würde, mit seinem Wasser in Wein verwandelnden, die Händler als falsche Spieler aus dem Tempeltheater jagenden Vorfahren gemein.

Über Himmel und Hölle hat übrigens ein von Kerr Gepriesener, der Dramatiker George Bernhard Shaw, gesagt, dass am einen Ort das Klima, am anderen dafür die Gesellschaft besser sei. Für Alfred Kerr dürfte Letzteres auch ein Kriterium gewesen sein. Arthur Schnitzler, Frank Wedekind, Shaw und über allen Gerhart Hauptmann zählten zu seinen Favoriten, ebenso wie Robert Musil, dessen „ Verwirrungen des Zöglings Törleß“ er schon im Manuskript erkannt und gefördert hat. Unter den literarisch überlebenden Opfern des bis 1933 auf der Berliner Zeitungsbühne dominanten Kritikers waren indes Brecht, Thomas Mann und Karl Kraus. Seinem Wiener (und Berliner) Intimfeind Kraus ist Kerr dabei nicht nur als wortmächtiger Stilist, sondern auch als großer Liebender und großer Hasser ähnlicher gewesen, als er dachte.

Ihm lag beides: Schleuder und Harfe. Im „Berliner Tagblatt“ übte er nach Theaterpremieren tatsächlich den Blattschuss in seinen aphoristisch, manchmal auch manieristisch komprimierten, durch römische Ziffern gegliederten Kritiken. Kerrs Motto: „Aus einem Gedanken macht der Stückemacher ein Stück. Der Schriftsteller einen Aufsatz. Ich einen Satz.“ Doch war Kerr zudem ein über die kurze Pointe hinweg begabter poetischer Erzähler, mitunter sogar ein Dichter. Viele neue Leser haben das vor 20 Jahren erstmals wahrgenommen, als Günther Rühle in einem polnischen Archiv jene „Berliner Briefe“ wiederentdeckte und als zweibändige Sammlung herausgab, was der bereits als Student in die aufstrebende Reichshauptstadt gewechselte Kerr ab Mitte der 1890er Jahre für die damalige „Breslauer Zeitung“ geschrieben hat. Marcel Reich-Ranickis Begeisterung darüber machte Kerr so ab 1997 zum posthumen Bestseller.

Eine neuerliche Verführung

Zu Kerrs 150. Geburtstag hat die Kerr-Kennerin Deborah Vietor-Engländer in Zusammenarbeit mit Rühle nochmals eine kürzere, einbändige Anthologie der „Berliner Briefe“ aus den Jahren 1895 bis 1900 unter dem Titel „Was ist der Mensch in Berlin?“ vorgelegt (Aufbau Verlag, Berlin 2017, 375 Seiten, 26 €).

Eine neuerliche Verführung, Kerr als Großstadtflaneur, als einfühlsam witzigen, dann auch wieder analytisch brillanten Schilderer alltäglicher Szenen, gesellschaftlich-politischer Skandale, Spannungen, Freuden, Menschenbegegnungen wahrzunehmen. Der Band enthält zudem einen erstmals nachgedruckten Text, der am 25. Dezember 1897, an Kerrs 30. Geburtstag, in der „Königsberger Allgemeinen Zeitung“ erschien. Eine Gerichtsreportage über einen der Korruption bezichtigten Berliner Musikkritiker. Ein exemplarisches Stück: psychologisch ganz modern und in der selbstherrlichen Mischung aus Schonungslosigkeit und Mitleid zugleich so fern wie nah.

Und: Wer fast alles über Kerr und ein Panorama deutscher, europäischer Kulturgeschichte erfahren will, der sollte Deborah Vietor-Engländers „Alfred Kerr. Die Biographie“ lesen (Rowohlt Verlag, Reinbek 2016, 719 Seiten, 29,95 €). Gerade in diesem Jahr. Denn im Herbst vor 80 Jahren ist der von Goebbels gehasste, den Nazis am Tag vor seiner vermutlichen Verhaftung 1933 mit dem Zug nach Prag entkommene, dann mit Frau und Kindern (Judith, die Tochter, hat später „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ geschrieben) im französischen und englischen Exil so darbende große Kerr mit 81 Jahren gestorben. In Hamburg 1948, bei seiner ersten Rückkehr nach Deutschland und gleich einem Theaterbesuch („Romeo und Julia“), nach einem Schlaganfall und im Krankenhaus der Entscheidung für den Freitod. Man lese das, verstehe und stelle sich vor, wie das alles war und – geworden ist.

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