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"Schwarz-Gelb macht nur Müll" steht auf einem Transparent, daneben wehen "Atomkraft?-Nein Danke"-Fahnen bei einer Aktion von Anti-AKW-Aktivisten imRegierungsviertel in Berlin bei einer Demonstration gegen die Kernenergie vor dem Reichstag.

© dpa

Protestforscher im Interview: Widerstand ist eine Klassenfrage

Wolfgang Kraushaar spricht über den Mythos vom Bürgeraufstand. Bürgerinitiativen gibt es schon seit über 40 Jahren. Aber anders als bei der 68er-Bewegungen, gehen dafür nicht mehr nur die Jungen und Radikalen, sondern auch die Alten und Etablierten auf die Straße.

Herr Kraushaar, in den letzten Wochen formiert sich in vielen deutschen Städten Widerstand. In Berlin wurde gegen Atomkraft, in Stuttgart gegen ein Bahnprojekt, in Hamburg gegen Schulreformen demonstriert. Erleben wir gerade den Beginn einer neuen Protestkultur?

Nein. Das Bild von einer neuen „Dagegen-Republik“, wie der „Spiegel“ titelte, täuscht. Wir blicken auf lauter Ausschnitte, die nicht ohne Weiteres ein Gesamtbild ergeben. Die Formen von Protesten, die jetzt zitiert werden – Stuttgart 21, der Volksentscheid über die Hamburger Schulreform – gibt es bereits seit vierzig Jahren. Seit 1970 kam es in der Bundesrepublik zur Gründung einer ganzen Welle von Bürgerinitiativen, ab 1972 entstanden Dachverbände wie der „Bundesverband Umweltschutz in Deutschland“. Das sind Indizien dafür, dass es Abertausende von Bürgerinitiativen gab, die in ihrer Zusammensetzung sehr ähnlich waren wie das, was wir heute erleben. Sie hatten alle jeweils ein Ziel, es waren Ein-Punkt-Bewegungen mit reformerischen Anliegen. Sie wollten etwas korrigieren und hatten, anders als die 68er-Bewegung, nicht vor, das System zu verändern.

In den Zeiten von APO, Anti-Atomkraft- und Friedensbewegung gab es klare Fronten: Auf die Straße gingen die Jungen und Radikalen. Jetzt demonstrieren auch Alte und Etablierte. Ist das ein Aufstand des Bürgertums?

Das Schwarz-Weiß-Bild von den Protesten in den siebziger und achtziger Jahren ist falsch. Natürlich hat es eine sehr militante Gegnerschaft gegen die Atomenergie gegeben, das führte zu den Konflikten um Brokdorf, Gorleben und Wyhl. Aber gleichzeitig gab es diese unglaubliche Form von Bürgerinitiativen als im Wortsinn bürgerliche Alternative zu den Ansätzen zu einer Systemveränderung. Die Rede vom „Aufstand des Bürgertums“ ist eine marktschreierische These. Aufgestellt hat sie vor ein paar Jahren der Politologe Arnulf Baring in der „FAZ“. Damals ging die Debatte in eine andere Richtung, gegen die rot-grüne Bundesregierung.

Gegner des umstrittenen Bahnprojekts Stuttgart 21 demonstrieren in Stuttgart am beinahe vollständig abgerissenen Nordflügel des Hauptbahnhofs. Seit Wochen stehensich Stuttgart 21-Gegner und Befürworter unversöhnlich gegenüber. Das Milliardenprojekt Stuttgart 21 sieht den Umbau des Kopfbahnhofs in eine unterirdische Durchgangsstation und deren Anbindung an die geplanteICE-Neubaustrecke nach Ulm vor.
Gegner des umstrittenen Bahnprojekts Stuttgart 21 demonstrieren in Stuttgart am beinahe vollständig abgerissenen Nordflügel des Hauptbahnhofs. Seit Wochen stehensich Stuttgart 21-Gegner und Befürworter unversöhnlich gegenüber. Das Milliardenprojekt Stuttgart 21 sieht den Umbau des Kopfbahnhofs in eine unterirdische Durchgangsstation und deren Anbindung an die geplanteICE-Neubaustrecke nach Ulm vor.

© dpa

In Stuttgart legen sich ältere, bürgerliche Damen ihre Perlenketten um, wenn sie demonstrieren gehen. Zeigt sich da nicht ein neues Bild von Protestkultur?

Das sind Äußerlichkeiten. Eine der wichtigsten bundesrepublikanischen Bürgerinitiativen war die Aktionsgemeinschaft Westend, die 1969 gegründet wurde. Sie wandte sich gegen den Abriss von Bürgerhäusern in Frankfurt am Main. Das waren klassische Bürger – Anwälte, Ärzte, Honoratioren –, die sich da zum Protest formierten. Und sie hatten Erfolg. Der damalige Frankfurter Polizeipräsident Knut Müller sagte dreißig Jahre später, dass es dieser Bürgerinitiative und der spontanistischen Hausbesetzerszene zu verdanken sei, dass das Westend überhaupt noch als Wohnstadtteil existiert.

Bei umstrittenen Großprojekten wie in Stuttgart verhärten sich schnell die Positionen. Ist ein Kompromiss überhaupt noch denkbar?
Stuttgart ist tatsächlich das zentrale Beispiel für alle Phänomene der jüngsten Zeit. Erst mal war es überraschend, dass diese so starke, nicht nachlassende Protestbewegung überhaupt zustande kam, und dass sie weitermacht, obwohl ein Teil des Bahnhofs bereits abgerissen ist. Je länger der Abriss anhält, desto schwieriger wird es werden, sich auch nur auf eine Zwischenlösung zu einigen. Das Beste wäre ein Moratorium. Die Abrissarbeiten müssten unterbrochen werden, bis neu entschieden wird unter Einbeziehung der Bedenken von den Protestlern. Momentan spricht allerdings wenig dafür, dass das geschehen wird.

Erhard Eppler hat einen Bürgerentscheid gefordert. Ist das ein zu utopischer Gedanke, quasi noch einmal bei Null anzufangen?

Mit plebiszitären Elementen sollte man vorsichtig sein. Wir haben es mit einem grundsätzlichen Konflikt von politischen Formen zu tun und von Auffassungen, was Demokratie sein sollte. Unsere repräsentative Demokratie ist mit den Vorstellungen einer Basisdemokratie, wie sie Erhard Eppler vorschweben mag, nur schwer kompatibel. Beide Modelle haben in bestimmten Aspekten Legitimationsschwächen. Die repräsentative Demokratie hält stur an ihren Planungen fest, und die Demonstranten, die sich nun auf plebiszitäre Rechte berufen, haben sich einfach zu spät konstituiert.

Was können Politiker aus zurückliegenden Kämpfen um Großprojekte wie Wyhl oder Wackersdorf lernen?

Viel. Ein Beispiel für einen lernenden Politiker ist Ernst Albrecht, der Vater von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen. Er war Ministerpräsident von Niedersachsen, als der Gorleben-Konflikt eskalierte. Albrecht sagte angesichts der vehementen und lang anhaltenden Proteste, dass die Politik solche Projekte nicht gegen die Bevölkerung durchsetzen könne. Für einen als stur und konservativ geltenden Politiker ist das ein bemerkenswerter Satz.

Derzeit mobilisieren lokale Konflikte und das globale Angstphänomen Atom Demonstranten. Warum sorgen Themen wie Hartz IV oder der Krieg in Afghanistan nicht für eine ähnliche Polarisierung?

Es gab bei beiden Themen große Proteste in den Medien und in der öffentlichen Meinung. Aber nicht auf der Straße, gemessen an der Schärfe des Meinungsstreits waren die Demonstrationen ein laues Lüftchen. Die Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV versandeten schnell und nahmen nie die Dimensionen der Montagsdemonstrationen aus der Endphase der DDR an. In Deutschland funktioniert die klassische Kombination von Protestbereitschaft und Proletariat – heute müsste man eher von Prekariat sprechen – nicht mehr. In Frankreich, Spanien, Italien oder Griechenland ist das anders. Als Hartz IV eingeführt wurde, zeigte sich, dass es für die Betroffenen enorm schwierig war, Proteste zu organisieren. Das ist ein grundsätzliches Problem, wir haben es heute mit einer Art Klassenspaltung im Protestverhalten zu tun. Während die Exponenten der Mittelschichten ihre Anliegen immer effektiver einbringen, misslingt das den Unterschichten. Die Wurzel davon ist Resignation. Armut führt zu Vereinzelung und Resignation.

Welche Macht haben Demonstranten?

Man sollte die Macht von Demonstranten nicht unterschätzen, das zeigt der Erfolg der Bürgerrechtsbewegung in der zu Ende gehenden DDR. Und die Grünen, die aus der Protestbewegung der sechziger und siebziger Jahre hervorgingen, sind inzwischen dabei, in Meinungsumfragen die SPD zu überholen.

Sollten sich Politiker vor Demonstranten fürchten?

Politiker, die überzeugte Demokraten sind, sollten in Protesten einen Seismografen erkennen. Politiker können anhand von Demonstrationen ein Sensorium dafür entwickeln, welche Interessen in ihrem eigenen politischen Handeln zu kurz gekommen sind oder sogar vollständig ignoriert wurden. Derzeit gäbe es genug Gründe für Unmut und Proteste. Zuletzt häuften sich seitens des Regierungshandelns Anzeichen, die so interpretiert werden könnten, dass diese Koalition nichts anderes ist als der verlängerte Arm von Konzernen. Wir erleben einen Lobbyismus in Hochblüte, beim Ausstieg aus dem Atomausstieg oder bei den Scheinreformen im Gesundheitswesen.

Das Gespräch führte Christian Schröder.

Zur Person:

Wolfgang Kraushaar, 62, ist der führende Historiker der deutschen Protestbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Politologe war Vorsitzender des AStA in Frankfurt am Main und Verlagslektor, bevor er 1982 bei Iring Fetscher über den „Strukturwandel der deutschen Universität“ promovierte. Seit 1987 arbeitet er am Hamburger Institut für Sozialforschung, wo er eine „Protest-Chronik“ führt. Zuletzt erschien sein Buch „Achtundsechzig. Eine Bilanz“ (Propyläen).

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