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Der Regisseur und sein Autor: Das Glück des filmischen Moments

Gefühle, Rhythmus, Bandenkrieg: Am Dienstag startet mit "Im Angesicht des Verbrechens" eine der ambitioniertesten Fernseharbeiten dieses Jahres. Ein Werkstattbericht

Das erste Drehbuch, das Dominik Graf von mir verfilmte, war eine Geschichte die in einer einzigen langen Nacht spielte und sich zu einer Geiselnahme in einer Polizeistation verdichtete: eine Folge der Serie „Der Fahnder“. Ich saß mit einem Ausbilder des SEKs am bereits gebauten Filmset. Fast die Hälfte des Films sollte in der Polizeistation zwischen drei Menschen spielen: einem unerfahrenen Geiselnehmer, einer jungen Geisel und einem gestandenen Polizisten.

Der Ausbilder erklärte mir, wie genau was in den Personen passiert. Ihre Gefühle, Gedanken, Ängste. Ich fragte so lange nach, bis ich sicher war, es schreiben zu können. Später schnitt ich den Film für Dominik, lernte so den Rhythmus seiner Inszenierung: Verlangsamung, Beschleunigung und dass jeder Schauspieler seine eigene Zeit hat.

So habe ich Drehbuchschreiben gelernt. „Im Angesicht des Verbrechens“ ist so etwas wie die Summe all unserer Arbeiten. Der Produzent Marc Conrad hatte die Idee dazu. Zwei Polizisten, einer mit russischem Hintergrund, ermitteln im abgeschotteten, osteuropäischen Milieu. Er schickte mich auf Recherchereisen, gab mir alle Freiheiten und unterstützte das Projekt einzigartig.

Im Zentrum der Geschichte: der Polizist Gorsky. Sein älterer, krimineller Bruder wurde erschossen, der Mörder nie gefunden, doch Gorsky kommt ihm auf die Spur und will ihn kriegen. Dafür muss er selber durch seelische Untiefen waten, und am Ende findet er den Mörder und findet zu sich. Das alles ist verbunden mit Bandenkrieg, Prostitution, Korruption, Gewalt Zigarettenschmuggel, glamouröser Unterwelt, Liebe, Betrug, Gewalt, Freunde, Ehre und Glück. Gangsterfilme zeigen immer Gegenwelten mit eigenen Gesetzen und eigener Moral. Um diese Welt realistisch darzustellen, wollte ich die Wirklichkeit erfahren.

Ortswechsel. Ich bin auf Recherche irgendwo in Osteuropa, warte mit zwei Mittelsmännern in einem leeren Restaurant auf eine staatliche Autorität. Von dieser soll ich etwas über Zigarettenschmuggel erfahren. Er isst für drei und sein halbwüchsiger Sohn auch, erzählen meine Begleiter. Ich zähle heimlich meine restlichen Dollars, den Großteil hatte ich schon für die Audienz weitergereicht. Der Dicke kommt mit seinem Sohn und mustert mich aus Jungenaugen in einem fast kindlichem Gesicht. Goldene Uhr, großer goldener Ring, schmaler Ehering. Sein Sohn ist die kleine Ausgabe von ihm. Er sitzt am Tisch, als wolle er nicht dazu gehören. Der Dicke gibt erst Mal laue Politikerphrasen von sich, während er eine Davidoff-Zigarette raucht. Plötzlich füllt sich das Restaurant mit Männern in Anzügen, die an den Nebentischen Platz nehmen.

Der Dicke unterbricht, denn diese Männer wollen etwas von ihm. Er geht zu einem der Tische, jemand redet leise mit ihm und steckt ihm dabei Geld zu. Der macht sich lustig über mich, flüstere ich meinen Begleitern zu, und ich bezahle auch noch dafür! Wart’s ab, raunt einer zurück.

Der Dicke kommt und erklärt nun übergangslos, wie das Zigarettengeschäft funktioniert. Er schaufelt dabei mit seinem Sohn das Essen nur so rein, trinkt Wodka und wechselt mitten im Satz zu einem anderen Tisch, hört zu, nimmt wieder Geld an. Zurück am Tisch, kommen weitere genaue Details, doch mittendrin klingelt sein Handy. Er muss weg, geht raus und steigt in sein Auto.

Bis er abfährt, reden Menschen mit ihm durch das offene Seitenfenster und reichen ihm Geldbündel. Ohne Korruption und ohne organisierte Kriminalität, würde das Leben hier nicht funktionieren, erklären mir die Begleiter. Auch meine Dollars verschwanden in der Tasche des Dicken.

Aber es war ein Geben und Nehmen. „Im Angesicht des Verbrechens“ – für mein Drehbuch hatte ich eine gute Geschichte und zwei neue Figuren. Lenz, ein deutscher Spediteur: dick, gierig, maßlos. Und sein Sohn, der ihm gleicht. Später wird der Spediteur in den Osten reisen, um dort ins Zigarettengeschäft einzusteigen. Ihm wird auf einer Datscha großes Theater geboten mit Wodka, Frauen und allem Drum und Dran. Er wird dafür bezahlen müssen.

In der Serie gibt es die Figur Joska, der Kopf einer Brigade (kriminelle Bande). Ich traf so einen in Berlin: Ende 20, großporige Haut, Jeans, Hemd, gebrochenes Deutsch. Er war gerade aus dem Gefängnis entlassen worden. Jetzt erklärt er mir, wie eine Brigade funktioniert. Wir sitzen draußen in einem Café. Neben ihm sitzt seine schöne, dunkelhaarige Freundin aus dem Kaukasus. Sie unterbricht ihn mehrmals, sagt offen, dass mir nicht zu trauen sei. Er glaubt aber meinem Mittelsmann, und er liebt das Kino. Wie für viele seiner ehemaligen Brigade ist sein Lieblingsfilm „Es war einmal in Amerika“ – nirgends zeige sich besser die Banditenehre, und wir sind auch so. Beim nächsten Treffen hatte ich schon ein paar Szenen fürs Drehbuch geschrieben und fragte ihn, wie ein Polizist mit ihm reden muss, damit er ihn ernst nimmt. Er fordert mich auf, den Polizisten zu spielen. Gleich nach meinen ersten Sätzen erschlug er mich förmlich mit seiner Sprache. Ich musste passen, bat ihn, den Polizisten selber zu spielen. Und so bekam ich meinen Dialog. Nachts, wenn ich ihn nach Hause fuhr, zitierte er aus dem Talmud. Einige meiner besten Szenen mit Joska verdanke ich ihm. Später hörte ich, dass er im Gefängnis saß.

Auch diese Szene aus „Im Angesicht des Verbrechens“ habe ich von ihm: Der Bandit Joska braucht ein Alibi von seiner Freundin. Sie weigert sich, hat genug von diesem Leben. Joska sagt: „Dann geh, wie du gekommen bist!“ Die Frau hat auch ihren Stolz, legt den Schmuck ab, zieht Guccikleid und Pradaschuhe aus. Der Bandit wirft ihr einen Trainingsanzug und abgetragene Turnschuhe zu und geht unter die Dusche. Als er wieder rauskommt, liegt sie wieder wie vorher auf dem Sofa vor dem Fernseher. Er hat sein Alibi.

Das sieht auf dem Papier alles recht unscheinbar aus, aber wie leicht und sicher Dominik Graf das inszeniert, wie es fotographiert, geschnitten und gespielt wurde, ist hohes Können.

In dieser kleinen Szene zeigt sich so etwas wie Glück für mich. Das Glück des filmischen Moments. Darum geht es Dominik Graf und mir, mehr als um die große Dramaturgie, die kommt meist schon von alleine.

Im Kleinen ist, wenn es gelingt, auch immer das Große. Und alles setzt sich zusammen aus Geschichten von Menschen, die wir aufgearbeitet haben und nun wieder zurückgeben an den Zuschauer.

Rolf Basedow ist Drehbuchautor, lebt in München. Der 62-Jährige hat für mehrere Genre-Filme von Dominik Graf die Bücher geschrieben. Ab Dienstag (22 Uhr 05) läuft ihr neuestes Werk, das im Milieu der Berliner Russenmafia spielt: die zehnteilige Serie „Im Angesicht des Verbrechens“ , jeweils dienstags/samstags zwei Folgen auf Arte.

Rolf Basedow

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