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Umstritten. Gegen Wikileaks-Chef Julian Assange gibt es einen Vergewaltigungs-Vorwurf. Es wird weiter wegen sexueller Nötigung ermittelt.

© dpa

Debatte um Wikileaks: Märchenstunde mit Julian Assange

Wikileaks-Gründer Julian Assange: ein Mann, viele Meinungen. Unser Amerikakorrespondent Christoph von Marschall stellt überraschende Unterschiede zwischen der Berichterstattung in den USA und in Deutschland sowie zwischen Print und Online fest.

„Objektiver Journalismus“ ist ein schönes Ideal. In der Praxis wird es selten eingelöst. Die nationale Perspektive und die Identifizierung mit dem eigenen Medium beeinflussen die Nachrichtenauswahl. Das illustriert ein Vergleich der Berichterstattung in US-Zeitungen, deutschen Print- und deutschen Online-Medien über den Wikileaks-Gründer Julian Assange, die Veröffentlichung vertraulicher Militärunterlagen und nun die Kontroverse um Vorwürfe gegen ihn wegen sexueller Übergriffe in Schweden.

Die meisten US-Zeitungen schlagen einen distanzierten, aber nicht unfreundlichen Ton an. Viele deutsche Zeitungen lassen ihre Sympathie mit Assange und ihr Misstrauen gegenüber US-Militär und Geheimdiensten durchklingen. Die meisten deutschen Online-Medien betreiben bewusst oder unbewusst die Stilisierung Assanges zu einem Robin Hood des Internets. In Konfliktfällen wird seine Darstellung breit zitiert. Fakten, die diesem Bild widersprechen, und die Darstellung der Gegenseite, werden oft weggelassen.

Jüngstes Beispiel ist die Kontroverse um den Haftbefehl in Schweden wegen Vergewaltigungsverdacht, der am Freitag Abend erlassen und am Samstag wieder aufgehoben wurde. Typisch für die generelle Diskrepanz sind die Unterschiede zwischen „New York Times“ und „Spiegel- Online“ – auch deshalb, weil beide Medien mit Wikileaks bei der Veröffentlichung der Afghanistan-Papiere zusammengearbeitet hatten. Bei „Spiegel-Online“ dominiert Assanges Behauptung, die Vorwürfe seien „ein schmutziger Trick“ der US-Geheimdienste. Man habe ihn „vor Sexfallen gewarnt“.

Die „New York Times“ berichtet Aspekte, die „Spiegel Online“ auslässt: Es wird weiter wegen sexueller Nötigung ermittelt, nur der Haftbefehl wegen Vergewaltigung ist aufgehoben. Eine der beiden Frauen kommt zu Wort: „Unsere Anschuldigungen sind natürlich weder vom Pentagon noch von jemand anderem inszeniert worden. Die Verantwortung liegt allein bei einem Mann mit einem schiefen Frauenbild und einem Problem, dass er ein Nein nicht akzeptieren kann.“ Bei den Frauen soll es sich um Mitarbeiterinnen von Wikileaks handeln. Wie passt das zum Vorwurf eines Komplotts der USA, für das Assange im Übrigen keine Indizien nennt?

Viele deutsche Online-Medien transportieren auch Assanges Beschwerde, er sei nicht persönlich über den Haftbefehl informiert worden, sondern habe davon aus schwedischen Zeitungen erfahren. Das ist ein offenkundig unsinniger Vorwurf. Er macht schließlich ein Prinzip daraus, keine feste Adresse zu haben und geheim zu halten, wo er sich aufhält.

Das Muster lässt sich seit Monaten beobachten: Wer sich vornehmlich aus deutschen Online-Medien informiert, wird den Eindruck gewinnen, Assange sei ein Mensch mit hohen Idealen, der sich im Dienst der Wahrheit mutig mit der mächtigen US-Militärmacht anlegt und nun verfolgt werde. US-Zeitungen hinterfragen seine Behauptungen. In der Summe ergibt sich das Bild eines Mannes, der mit Aufschneidereien, Halbwahrheiten und Manipulationen arbeitet. Deutsche Zeitungen berichten Wikileaks-freundlicher als amerikanische, übernehmen seine Darstellungen aber nicht so unkritisch wie viele deutsche Online-Medien.

Im April 2010 hatte Wikileaks das so genannte Bagdad-Video veröffentlicht. Es zeigt aus der Sicht der Kamera des Kampfhubschraubers ein Gefecht zwischen Aufständischen und US-Militär in Bagdad am 12. Juli 2007, bei dem zwei Foto-Journalisten starben, die für Reuters arbeiteten. Reuters hatte sich um Herausgabe des Militärvideos bemüht. Gerichte lehnten das ab. Viele deutsche Medien übernahmen Wikileaks’ Behauptung, das Video zeige ein unbekanntes Gesicht des Krieges. US-Blätter analysierten, die Fakten seien nicht neu. Sie hatten mehrfach ausführlich berichtet. Es gab sogar bereits ein Buch, „The Good Soldiers“, in dem David Finkel von der „Washington Post“, ein Augenzeuge des Gefechts, die Abläufe beschrieb, inklusive der abstoßenden Wortwechsel der Soldaten, die in Deutschland so viel Empörung hervorriefen. Das „Wall Street Journal“ warf Wikileaks vor, es habe in einer der veröffentlichten Videovarianten gezielt all die Szenen heraus geschnitten, die belegten, dass das US-Militär beschossen worden war und das Feuer erwiderte.

Ende Juli folgten die Afghanistan-Papiere. Assange behauptete, sie hätten die Brisanz der „Pentagon-Papiere“, die 1971 zum Stimmungsumschwung gegen den Vietnamkrieg beitrugen. Auch das übernahmen viele deutsche Medien. US-Zeitungen widersprachen. Die „New York Times“, die in beiden Fällen die Geheimunterlagen veröffentlichte, urteilte: Die Pentagon-Papiere hätten belegt, dass die Regierung die Öffentlichkeit über Vietnam belüge. Die Afghanistan-Papiere zeigten, dass Präsident Obama die Lage dort korrekt darstelle. Die Zeitung begründete ihre Entscheidung, die Dokumente zu veröffentlichen so: Sie zeigten kein neues, bisher unbekanntes Bild des Afghanistankriegs, aber ein umfassenderes Bild und seien deshalb eine Verständnishilfe, wie der Westen trotz guter Absichten in eine so missliche Lage geraten konnte.

Im Rückblick scheint es offenkundig, dass Assange weder die grundlegenden Fakten über die Afghanistan-Papiere kannte, die Wikileaks publizierte, noch sich über die Folgen der Veröffentlichung brisanter Details im Klaren war. Er sprach anfangs immer davon, dass er rund 92.000 vertrauliche Militärdokumente ins Netz gestellt habe. Wenige Tage später musste er sich in einem Interview mit „National Public Radio“ (NPR) – einem Sender, der in den USA zum linken Spektrum zählt – auf Nachfrage korrigieren: Es seien nur 77.000 Dokumente veröffentlicht worden.

Der Hintergrund: Das Pentagon hatte Wikileaks vorgeworfen, mit der Publikation, erstens, das Leben amerikanischer Soldaten zu gefährden, weil es deren Sicherheitsvorkehrungen gegen Anschläge offen lege. Und, zweitens, das Leben afghanischer Informanten; denn deren Klarnamen seien in den als „geheim“ gestempelten Unterlagen genannt; sie würden nun auf die Todeslisten der Taliban gesetzt. Die „New York Times“ hatte bei ihrer Veröffentlichung der Dokumente berichtet, sie habe bei der Kooperation mit Wikileaks durchgesetzt, dass 15.000 Dokumente nicht veröffentlicht werden, um nicht Menschen in Todesgefahr zu bringen.

Um diese 15.000 Dokumente ist nun zusätzlicher Streit entbrannt. Und auch da behauptet Assange Dinge, die offizielle Stellen oder seine Rechtsanwälte wenig später korrigieren. Wikileaks möchte auch diese 15.000 Dokumente veröffentlichen und fordert vom Pentagon Hinweise, welche Passagen es schwärzen solle, um keine Menschen zu gefährden. Assange behauptete vor wenigen Tagen, man sei einer Einigung nahe. Das Pentagon widersprach: Es könne prinzipiell keine solche Kooperation geben, da Wikileaks durch Rechtsbruch in Besitz der Dokumente gelangt sei. Wikileaks müsse die Unterlagen vielmehr zurückgeben.

Weitere Beispiele von Assanges kreativem Umgang mit der Wahrheit und der Bereitwilligkeit vieler deutscher Online-Medien, sich in seine PR-Maschine einbinden zu lassen, gibt es zuhauf. Nachdem der US-Soldat Bradley Manning verhaftet worden war, der im Verdacht steht, Wikileaks das Bagdad-Video und die Afghanistan-Papiere zugespielt zu haben, gab Assange an, er sammele Geld für dessen Verteidigung und habe drei Rechtsanwälte mit Mannings Vertretung beauftragt. Mitunter fügt er hinzu, das US-Militär weigere sich, diese Anwälte zu Manning vorzulassen. Das Pentagon sagt umgekehrt, es habe sich überhaupt kein Anwalt gemeldet. Man wüsste gerne die Namen der angeblichen Rechtsbeistände. Dann könnte man sie fragen, welche Version stimmt.

Viele deutsche Online-Medien transportieren auch Assanges Darstellung, er werde von den USA verfolgt und an der Einreise gehindert. Es verhält sich gerade umgekehrt. US-Behörden möchten Assange einreisen sehen, weil sie ihn gerne über seine Rolle bei den Veröffentlichungen befragen würden, die gegen US-Gesetze verstoßen. Assange fürchtet die Einreise in die USA und andere Länder, weil er weiß, dass er sich dort strafbar gemacht hat. Das klingt natürlich anders als die Opfer-Variante: Amerika hindere ihn an der Einreise.

Der erstaunlichste Widerspruch, dem deutsche Online-Medien nicht nachgehen, aber ist: Der Mann, der die Veröffentlichung privater und geheimer Unterlagen im Dienste von demokratischer Transparenz zu einem Prinzip erhebt, das über den Gesetzen steht, ist äußerst zurückhaltend mit Informationen über sich und Wikileaks: Was ist er von Beruf? Womit verdient er sein Geld? Wer finanziert Wikileaks und aus welchem Interesse heraus?

Die Motive, warum US-Zeitungen, deutsche Zeitungen und Online-Medien so unterschiedlich berichten, sind nicht schwer zu erraten. US-Zeitungen haben eine amerikanische Perspektive und zudem eine Menge Erfahrung im Umgang mit Geheimunterlagen des Militärs und der Geheimdienste. Sie spielen seit Jahrzehnten eine Schlüsselrolle bei deren öffentlicher Kontrolle. In Deutschland kommt zum Einen die Distanz zu den USA zum Tragen und zum Anderen eine gewisse Idealkonkurrenz zwischen den Print-Redaktionen, sie sich als Hüter verlässlicher Tradition betrachten, und den Online-Redaktionen, die sich als Avantgarde der medialen Zukunft verstehen. Print betrachtet Online mit kritischer Distanz und auf lange Sicht als potenziell tödliche Konkurrenz, die das Zeitungssterben beschleunigt. Print-Redaktionen sind in der Regel personell besser ausgestattet und haben mehr international erfahrene Redakteure. Onliner sind jünger, idealistischer und neigen dazu, Neuerungen im Internet als per se gute Entwicklung zu betrachten.

Man kann sich leicht vorstellen, wie Print und Online, zum Beispiel, einen Politiker behandeln würde, der ähnlich viele falsche oder irreführende Angaben über seinen Fachbereich macht. Darf man das auch von Online-Medien im Umgang mit Julian Assange erwarten?

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