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Die Vorfahrt für bestimmte Dienste wird in der neuen EU-Regelung zur Netzneutralität bereits dann erlaubt, wenn die Netzüberlastung noch gar nicht eingetreten ist.

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EU-Beschluss zur Netzneutralität: Auf der Überholspur

Die EU hat neue Regeln zur Netzneutralität verabschiedet. Kritiker fürchten, dass nun ein Zwei-Klassen-Internet entstehen könnte.

Bislang herrschen im Internet geradezu paradiesische Zustände: Alle Dienste müssen von den Internetprovidern gleich behandelt werden, egal, ob es sich um Daten von großen Unternehmen handelt oder um eine kleine Website. Doch ein vom EU-Parlament am Dienstag beschlossenes Gesetz droht dieses Grundprinzip des Internets nun aufzuweichen. Künftig könnte es für manche Dienste möglich sein, sich freie Fahrt auf der Überholspur zu kaufen, während andere Daten nur noch im Schleichtempo transportiert werden. Kritiker fürchten, dass dadurch ein Zwei-Klassen-Internet geschaffen wird.

"Spezialdienste" bekommen Vorfahrt

Zwar stimmten die Abgeordneten dafür, dass Netzanbieter im Prinzip keine bestimmten Dienste gegenüber anderen bevorzugen dürfen. Doch weil die Datenmenge ständig wächst, steigt auch die Gefahr von Staus im Netz. Deshalb wurde diskutiert, ob in Sonderfällen nicht doch manche Internetdienste Vorfahrt bekommen sollten – und zwar sogenannte „Spezialdienste“ wie Telemedizin oder Fernsehen im Internet. Diese Dienste sollen andere Nutzungen nicht verdrängen und nur angeboten werden, wenn es genügend Kapazität gibt. Sie dürfen aber privilegiert behandelt werden.

Die Ausnahme von der Regel soll also dafür sorgen, dass beim Video-Streaming das Bild nicht ruckelt oder bei einer Telemedizin-Anwendung das Bild während einer Operation nicht plötzlich unscharf wird – nur weil gerade nicht genügend Bandbreite zur Verfügung steht.

Kritiker fürchten nun, dass die Netzneutralität durch vage Formulierungen praktisch abgeschafft wird. Vor der Abstimmung hatten mehr als 30 führende Start-ups, Internetunternehmen und Investoren aus Europa und den USA Änderungen der Pläne gefordert. Auch Web-Erfinder Sir Tim Berners-Lee wandte sich gegen die Regelung. Die Kritiker befürchten, dass die Entwicklung innovativer Dienste behindert wird, wenn Internetprovider bezahlpflichtige „Überholspuren“ für bestimmte Daten einrichten und andere Dienste ausbremsen dürfen. Pilar del Castillo von der spanischen konservativen Partei PP, Berichterstatterin im EU-Parlament, rechtfertigte die Ausnahmen mit dem Argument, dadurch würden innovative Dienste erst möglich.

Provider brauchen einen gewissen Spielraum

Heftig diskutiert wird auch über das sogenannte „Zero Rating“, das im ersten Gesetzesentwurf noch untersagt war und in der jetzigen Fassung nicht mehr verboten ist. Bisher wird die Geschwindigkeit, mit der Nutzer einer Flatrate im Internet surfen, ab einem bestimmten verbrauchten Volumen gedrosselt. Beim „Zero Rating“ aber bieten die Provider an, bestimmte Dienste aus der Volumen-Berechnung für eine Drosselung auszuklammern. So gibt es bei der Deutschen Telekom schon heute einen Mobilfunktarif mit einer „Music Streaming Option“, bei dem die Songs von Spotify ohne Belastung des Datenvolumens aufs Smartphone kommen. Wer dagegen einen anderen Dienst wie Deezer, Napster, Juke oder Apple Music nutzt, muss sich die Streamingdaten auf sein Kontingent anrechnen lassen. Ähnliche Deals bieten manche Internetprovider den Kunden von Video-Streamingdiensten an.

Tatsächlich brauchen die Provider einen gewissen Spielraum, beispielsweise, um im Fall einer Überlastung im Netz dafür zu sorgen, dass Notrufnummern noch erreichbar sind. Die Vorfahrt für bestimmte Dienste wird in der neuen Verordnung allerdings schon dann erlaubt, wenn eine Netzüberlastung noch gar nicht eingetreten ist. Web-Erfinder Berners-Lee befürchtet, dass auf dieser Grundlage beispielsweise alle verschlüsselten Datenströme in eine Kategorie gepackt und und dann gedrosselt werden.

„Dass Internetprovider jetzt die Möglichkeit bekommen, bestimmten Datenverkehr auf ihren Leitungen zu drosseln und anderen zu bevorzugen, schafft nicht nur ein Zwei-Klassen-Internet, sondern nimmt auch die Anreize, Leitungskapazitäten weiter auszubauen“, beklagte die Piraten-Europaabgeordnete Julia Reda.

Bundesnetzagentur soll Mindeststandards schaffen

Die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen forderte, bei der Umsetzung der Verordnung in nationales Recht die vagen Formulierungen im Sinne der Netzneutralität zu konkretisieren. „Ein robuster diskriminierungsfreier Internetzugangsdienst ist die Basis für inhaltliche Vielfalt und Meinungsfreiheit im Netz“, erklärte Medienstaatssekretär Marc Jan Eumann (SPD).

Der IT-Branchenverband Bitkom begrüßte die Regelung und bezeichnete den verabschiedeten Kompromiss als "ausgewogen und vernünftig." Denn auch der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutung von bestimmten Qualitätsdiensten werde damit Rechnung getragen. "Das heißt: Auch künftig werden natürlich alle Dienste im offenen Internet jederzeit zugänglich sein. Zugleich können zum Beispiel Daten für die Industrieproduktion oder innovative Videoangebote verlässlich zu einer bestimmten Qualität übertragen werden", teilte eine Bitkom-Sprecherin mit.

Klaus Müller, Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbands, fordert die Bundesnetzagentur auf, dringend verbindliche Mindeststandards für Qualität und Geschwindigkeit im Internet zu schaffen, denn: „Nutzer dürfen nicht von einigen Anbietern auf der Überholspur abgehängt werden.“ (mit dpa)

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