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Film-Essay: „Sollbruchstelle“

Ohne Arbeit ist das Leben nicht viel wert. Ohne Arbeit kein eigenes Einkommen, keine soziale Anerkennung. Bloß nicht das letzte Schaf in der Herde sein! Wir träumen lieber davon, souverän über den Dingen zu schweben.

Eine seltsame Geschichte: Ein Mann steht am Fenster seines Büros und blickt wie jeden Tag auf die Brücke über die Eisenbahngleise, über die sonst viele Menschen strömen. Er hat viel Zeit, denn er wurde in seinem Betrieb kaltgestellt, abgeschoben auf einen Posten ohne Aufgabe, nachdem er erfolgreich auf Wiedereinstellung geklagt hatte. An diesem Tag sieht er eine Schafherde über die Brücke ziehen. Ganz am Ende kommt eines der Schafe nicht mehr mit, bricht zusammen, rappelt sich wieder auf, bricht wieder zusammen. Dann hält ein Auto, das Schaf wird auf die Ladefläche geworfen. Der Mann beschreibt den Schäfer und seine Helfer als ausgesprochen hässliche Menschen. Es ist nicht schwer zu erraten, mit wem er sich identifiziert.

Ohne Arbeit ist das Leben nicht viel wert. Ohne Arbeit kein eigenes Einkommen, keine soziale Anerkennung. Bloß nicht das letzte Schaf in der Herde sein! Wir träumen lieber davon, souverän über den Dingen zu schweben. Alles von oben zu betrachten, frei wie die Vögel.

Doch auch für diese Perspektive hält der Dokumentarfilm „Sollbruchstelle“ eine ernüchternde Geschichte bereit. Hoch über Berlin, an einer riesigen Werbewand, hängt Stephan und ist dabei, den Weltrekord im „Plakatsitzen“ zu brechen. Acht Tage und acht Nächte für einen Flachbildschirm im Wert von 1777 Euro – behauptet das Plakat. „Er winkt auch zurück“, steht dort, weithin lesbar. Tatsächlich winkt Stephan brav den Passanten zu, kommentiert aber: „Es ist schade, dass man sich ab und zu mal verkoofen muss.“ Am Ende des Films wird mitgeteilt, dass Stephan den Rekord gebrochen, später unter schweren Depressionen gelitten und sich von einem Hochhaus gestürzt habe.

„Sollbruchstelle“ ist ein trauriger Film über die Menschen und ihre Arbeitswelt, ohne dass Autorin Eva Stotz abschreckende Bilder gesucht hätte etwa von miserablen Arbeitsbedingungen. In ihrem ersten langen Dokumentarfilm erzählt sie von der Fixierung auf den Beruf, vom Ausgeliefertsein. Sie kommentiert nicht, sondern sammelt Beobachtungen aus dem Alltag, unspektakuläre Szenen wie die vielen Gesichter von Menschen auf dem Weg zur Arbeit, von Menschen hinter modernen Büro-Glasfassaden, verbindet dies mit Szenen aus Bewerbungs- und Motivationsseminaren und, nun ja, auch mit Bildern von einer Schafherde. Ein Filmessay im ruhigen Tempo, mal gedankenverloren, mal auf den Punkt gebracht.

Den roten Faden bildet das Schicksal ihres eigenen Vaters, des ehemaligen Managers Franz Stotz, der nach 40 Jahren betriebsbedingt gekündigt wird, sich wieder einklagt und fortan systematisch ausgegrenzt wird. Nach sechs Jahren „Isolationsfolter“ gibt auch der Vater von Eva Stotz auf und nimmt ein Abfindungsangebot an. Die Autorin lässt ihren Vater reden, bleibt auf Distanz.

Im Gedächtnis bleibt auch, wie verblüfft eine junge Frau von dem Gespräch mit ihrem Berufsberater erzählt. Auf die Frage, was sie denn eigentlich sei, wenn sie jetzt keinen Abschluss schaffe, keinen Ausbildungsplatz finde und auch nichts anderes unternehme als etwa ein Soziales Jahr, habe die lapidare Antwort gelautet: „Nichts.“ Thomas Gehringer

„Sollbruchstelle“, 21 Uhr 50, 3sat

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