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Die Unkenntlichmachung kann man online beantragen, gegen das Verpixeln gibt es allerdings kein Formular.

© dpa

Henryk M. Broder: Google, Gouda und Godzilla

Briefgeheimnis futsch, Bankgeheimnis weg - aber Fassaden schützen? Henryk M. Broder will seine Hauswand nicht bis zum letzten Mauerbrösel gegen die Pixel-Brigade verteidigen.

Wenn ich abends durch Haarlem, Alkmaar oder Overveen fahre, kann ich den Holländern in die guten Stuben schauen. Ich sehe, wie sie eingerichtet sind und was sie gerade machen. Ich komme mir wie ein Voyeur vor, allerdings sind die Holländer keine Exhibitionisten. „Wir wollen nur zeigen, dass wir nichts zu verbergen haben“, so erklärt ein holländischer Freund den seltsamen Brauch. Es gibt auch andere Erklärungen. Eine „Gardinensteuer“, die angeblich mal erhoben wurde, den Geist des Calvinismus, der mit sozialer Kontrolle verknüpft war.

Was es auch immer ist, in Deutschland wäre das Verhalten der Holländer ein Fall für den Datenschutzbeauftragten. Sie verletzten ihr eigenes Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“, sie geben vieles von sich preis. Die Größe ihrer Wohnzimmer, die Art der Bilder an den Wänden, die Menge der Bücher in den Regalen. Man kann ihnen beim Kochen, Essen, manchmal auch Knutschen zusehen. Ein seltsames Volk, diese Oranjer, sie leben in Puppenstuben und pflegen die Transparenz.

Während ich dies schreibe, bekomme ich eine E-Mail von einer Berliner Bekannten, die mir einen Vordruck schickt, mit dem ich bei Google Einspruch gegen das Zeigen „meines“ Hauses auf Street View einlegen kann, egal ob mir das Haus gehört oder ich nur eine Wohnung gemietet habe. Ein Einspruch genügt, und Google muss das ganze Haus zupixeln. Die Bekannte hat es bereits getan und feiert nun ihren Sieg gegen Google. Wie David gegen Goliath. Oder Rosa Luxemburg gegen Katharina die Große. Ich überlege, ob ich es nicht umgekehrt machen und Google darum bitten soll, „mein“ Haus ungepixelt zu zeigen, schon deswegen, weil von meinem Balkon eine US-Fahne weht.

Aber diese Option ist im Einspruchsformular nicht vorgesehen. Also lasse ich es sein. Es war wohl nur ein Zufall, dass die Anti-Google-Welle zur gleichen Zeit losbrach, als die WHO die „Schweinegrippe-Pandemie“ für beendet erklärte. Diese „Pandemie“ war vor allem für die Pharmaindustrie eine bittere Pille, sie hat weniger Menschen ins Jenseits befördert, als durch ärztliche Kunstfehler oder beim Kampftrinken ums Leben kommen. Dafür war sie als „Gruselfaktor“ bei Hypochondern und Hysterikern sehr erfolgreich. Wer in der U-Bahn angeniest wurde, sah sich auf dem Weg in die Isolierstation. Es soll Friedhofsverwaltungen gegeben haben, die vorsorglich mit dem Ausheben von Massengräbern anfangen wollten, solange noch genug Arbeiter zur Verfügung standen.

Solche Lustängste kann Google nicht befriedigen, aber es reicht, um den Innenminister, die Justizministerin und die Ministerin für Verbraucherschutz aus dem Vorruhestand zu erlösen. Dieselben Leute, die unser Leben in eine „Truman-Show“ verwandelt haben, wollen uns und unsere Privatsphäre nun vor Google beschützen. Das ist, als würden Repräsentanten der Alkohol-Lobby das Verbot von Mon-Chéri-Pralinen fordern.

Wer ein Handy benutzt, ist nicht nur jederzeit erreichbar, er hinterlässt auch Spuren, kann jederzeit lokalisiert werden. Wer Geld an einem Bankautomaten abhebt, der kann seine Kontodaten gleich bei Facebook online stellen. Wer durch eine Großstadt flaniert, wird von zahllosen Überwachungskameras begleitet. Ob sich jemand in einem Supermarkt an der Kasse anstellt oder bei „Big Brother“ auf dem Sofa lümmelt, macht erfassungstechnisch keinen Unterschied aus. Der Missbrauch des so produzierten Materials wird nicht durch Gesetze, sondern durch die Menge der gesammelten Daten verhindert. Kein Amt ist in der Lage, sie auszuwerten. Hinzu kommt der Hang zum Exhibitionismus, früher das Privileg weniger „Gliedvorzeiger“, heute das tägliche Brot in der Kantine der Infotainmentgesellschaft. Dass sich junge Frauen von einem Fernsehteam bei der Brustvergrößerung beziehungsweise Verkleinerung filmen lassen, ist mittlerweile so normal wie ein Besuch im Nagelstudio.

Vor kurzem ist eine mutige Moderatorin noch einen Schritt weiter gegangen und hat eine verheiratete Frau präsentiert, die sich ihrem Mann zuliebe für eine operative Schamlippenkorrektur entschieden hatte. Den Zuschauern wurden alle Details des Eingriffs ausgiebig mithilfe von Grafiken erklärt. So lässt sich das Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“ harmonisch mit den Bedürfnissen des Boulevards verbinden.

Bei Google läuft die Sache anders. Es sind nicht Menschen, deren Privatsphäre verletzt wird, sondern Häuser beziehungsweise Häuserfassaden. Das ist so absurd, als würde Amnesty International oder Human Rights Watch gegen den Abriss von Gebäuden protestieren, die zu alt und zu baufällig sind, um sich selbst zur Wehr setzen zu können. Die „informationelle Selbstbestimmung“ wird offenbar umso mehr hoch gehalten, je weniger von ihr übrig geblieben ist. Das Bankgeheimnis gibt es nicht mehr, vom Briefgeheimnis ist die Aufforderung „Diskretion bitte“ übrig geblieben, mit der Postkunden ermahnt werden, am Schalter Abstand voneinander zu wahren.

Und jetzt kommt Google! Wie Godzilla aus der Tiefe des Meeres, und bedroht unsere Idylle. Die Margeriten im Garten lassen die Köpfe hängen, die Hortensien hören auf zu blühen. Der Hund wird depressiv und der Kuchen geht nicht auf, weil Oma statt Backpulver Kukident in den Teig getan hat. Aber an unsere Hausfassade lassen wir keinen ran! Wir werden sie bis zum letzten Mauerbrösel verteidigen! Vorher aber laufe ich noch eine Runde durch Gouda und schaue den Holländern in die gute Stube.

Der Autor ist Reporter beim „Spiegel“.

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