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Hochseriöse Nachrichten. Die Sendeanstalt hat sich mit Fehlern bei der Aufarbeitung eines Missbrauchsskandals in eine Krise manövriert. Chef Entwistle (Mitte) muss gehen. Foto: dpa

© dpa

Hexenjagd per Twitter: Nur 54 Tage

BBC-Chef George Entwistle tritt zurück: Die britische Sendeanstalt hat sich mit Fehlern bei der Aufarbeitung eines Missbrauchsskandals in eine schwere Krise manövriert.

Nach weniger als zwei Monaten im Amt sagte BBC-Chef George Entwistle am Samstagabend: „Es war eine Ehre.“ Und trat zurück. Der oberste Verantwortliche für die Integrität des BBC-Journalismus war Opfer des Orkans geworden, den der Skandal um die 40 Jahre lang kaschierte Pädophilie des TV-Starmoderators Jimmy Savile aufpeitschte. Vergangene Woche erreichte der Sturm mit journalistischem Pfusch im angesehenen BBC- Spätmagazin „Newsnight“ einen Höhepunkt: mit falschen Anschuldigungen, Verleumdungen und einer Hexenjagd per Twitter auf den unschuldigen, ehemaligen Tory-Politiker Alistair McAlpine, der in „Newsnight“ als vermeintlicher Täter in Sachen Kindesmissbrauch ins Spiel gebracht wurde.

Das letzte Stück Glaubwürdigkeit verlor Entwistle in einem Interview, das er am Samstagmorgen einem seiner eigenen Journalisten in der Frühsendung von Radio 4 gab. Statt Vertrauen zu schaffen, machte Entwistle den Eindruck eines Mannes, der an der Spitze des größten öffentlich-rechtlichen Senders der Welt mit einem Drei-Milliarden-Pfund-Haushalt am falschen Platz ist. Entwistle gab zu, dass er die Kontroverse um den McAlpine-Film verschlafen hatte. Als der Generaldirektor kurz nach seiner Amtsübernahme wegen der Savile-Affäre vom Unterhausmedienausschuss vernommen wurde, gab man ihm den Spottnamen „Un-neugieriger George“, weil er sich für die Affäre kaum interessiert hatte.

„Ein Mann, der seine Organisation nicht im Griff hatte“, so der Vorsitzende des parlamentarischen Medienausschusses, John Whittingdale, zu Entwistles Rücktritt. „Newsnight“ hatte den Namen des Tory-Politikers Lord Alistair McAlpine zwar nicht genannt, dieser wurde aber per Twitter identifiziert und Objekt einer Welle von Anschuldigungen. Der BBC-Film hatte „den Tory-Politiker“ als aktives Mitglied eines Pädophilenrings beschrieben, der in den siebziger Jahren in Nordwales aktiv war. Eine richterliche Untersuchung 15 Jahre später habe alles, vor allem die Beteiligung des Torys, vertuscht. Im Unterhaus wurde die Stimmung von einem Labour-Abgeordneten aufgepeitscht, der von einem „Pädophilenring mit Verbindung zu Nummer 10 Downing Street“ sprach. Die Regierung musste neue Ermittlungen anordnen. Dann brach das Kartenhaus zusammen. Der „Guardian“ hatte herausgefunden, dass die Sache eine alte Kamelle und Lord McAlpine Opfer einer Personenverwechslung war. Die Hauptquelle des Filmes, Missbrauchsopfer Steve Messham, entschuldigte sich. Die BBC hatte ihrem Kronzeugen nicht einmal durch ein Foto des Bezichtigten auf den Zahn gefühlt. Auch bei McAlpine nachzufragen hielt man nicht für nötig. McAlpine sagt, er habe keine Wahl, als die BBC zu verklagen. „Unakzeptabel schludriger Journalismus“, gab der Vorsitzende des BBC-Aufsichtsrats, Lord Patten, zu, der nun nicht nur im Schnellverfahren nach einem neuen Generaldirektor suchen, sondern Reformen der Organisation beschleunigen muss. Vor zwei Monaten kam die BBC unter Beschuss, weil sie ein „Newsnight“-Exposé des pädophilen Moderators Jimmy Savile auf Eis legte. Ob die BBC lieber ihr Renommee schützen als seinen unrühmlichen Umgang mit jungen Mädchen aufdecken wollte, ist Gegenstand einer Untersuchung.

Nun steht die BBC in der schwersten journalistischen Krise ihrer Geschichte. Zum heikleren Zeitpunkt hätte die Krise nicht kommen können. In den nächsten Wochen wird die Kommission von Richter Leveson ihren Bericht über neue Regulierung der Zeitungen vorlegen. Eine nervöse Presse, vor allem die von Rupert Murdoch kontrollierte, neidet der BBC ihre unabhängige Selbstverwaltung. Lord Patten selbst räumte gestern in einem BBC-Interview ein, „Regulierung von außen“ könne in Zukunft nicht mehr ausgeschlossen werden. „Braucht die BBC eine radikale Umstrukturierung? Ja, ganz sicher“, so Patten. Die Tragödie sei, dass sich Entwistle gerade darangemacht habe, die zu zentralisierten BBC-Managementstrukturen und -Entscheidungsprozesse wieder zu entzerren. Als amtierender Generaldirektor wurde provisorisch der künftige Chef des BBC-Kommerzarms BBC Worldwide, Tim Davie, benannt – ein Mann aus dem Marketing, ohne journalistische Erfahrung.

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