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Multiple Erregung. Thilo Sarrazin hat ein neues Buch geschrieben. Gegner sehen eine Verknüpfung von Euro und Holocaust. Sarrazin wurde in die Talkshow „Günther Jauch“ eingeladen. Sein Gesprächspartner war sein SPD-Genosse Peer Steinbrück. Foto: dpa

© dpa

Interview: „Jeder und alles ist skandalisierbar“

Zum digitalen Zeitalter gehört der Kontrollverlust. Der Medienforscher Bernhard Pörksen über grausame und gute Empörung sowie das Publikum als Akteur.

Herr Pörksen, in Ihrem Buch stellen Sie fest, dass der „klassische Skandal“ im digitalen Zeitalter vom „entfesselten Skandal“ abgelöst worden ist. Zunächst: Was charakterisiert beide Skandalformen?

Der klassische Skandal ist in seiner Wirkung zeitlich und räumlich eingrenzbar, wird von klassischen Massenmedien bestimmt, folgt einem bestimmten Ablaufschema. Am Anfang steht eine Normverletzung, von der noch niemand weiß; dann kontaktiert irgendwann ein Informant die Redaktion. Und es sind – das ist der nächste Schritt – Journalisten, die alles bekannt machen, den Rhythmus der öffentlichen Attacke festlegen. Erst ganz am Schluss tritt das Publikum überhaupt in Erscheinung. Der entfesselte Skandal dagegen ist im Extremfall global präsent. Jeder weiß von ihm. Jeder kann mit ein paar Klicks in Erfahrung bringen, was gewesen ist – oft noch nach Jahren und Jahrzehnten. Und alle, eben nicht mehr nur Journalisten, können sich barrierefrei in die Erregungskreisläufe einschalten, die Aufregung verstärken. Das Enthüllungs- und Empörungsgeschäft hat sich radikal demokratisiert.

Wer oder was hat diese Transformation ausgelöst?

Die entscheidende Zäsur ist die Digitalisierung, die Ablösung von einem Trägermedium wie dem Papier und der Zeitung, das noch eine gewisse Kontrolle erlaubt. Papier altert, Papier vergilbt. Papier ist lokalisierbar, man kann es schwärzen, einstampfen, verbrennen. Digitalisierte Daten und Dokumente gehen, wie der Netzphilosoph Peter Glaser einmal so wunderbar gesagt, in einen „neuen Aggregatzustand“ über. Sie werden leicht, beweglich. Sie lassen sich blitzschnell kopieren, kombinieren, verbreiten, kaum noch zensieren und global rezipieren.

Einer der größten Skandale der letzten Jahre - die Guttenberg-Affäre:

Ist im digitalen Zeitalter quasi jeder, quasi alles skandalisierbar?

So ist es. Einziges Kriterium: Man braucht ein Publikum, das mitgeht und das Empörungsangebot eines wütenden Einzelnen annimmt – und dann selbst munter pöbelt, spottet, hasst. Früher, im Zeitalter der mächtigen Gatekeeper-Medien, waren es vor allem Mächtige, Prominente und Einflussreiche, die zum Opfer und Objekt von Skandalisierungsprozessen wurden – sieht man von der Boulevardpresse einmal ab, die sich schon immer auch an sogenannten kleinen Leuten vergriffen und ihre öffentliche Hinrichtung betrieben hat.

Wie sehr bedingen Skandal und Transparenz einander?

Das ist ein interessanter Punkt. Meine Formel lautet: Skandale erzwingen Transparenz, weil im Moment der Enthüllung plötzlich Verborgenes sichtbar wird. Und Transparenz macht Skandalisierung wahrscheinlicher, einfach weil – rein quantitativ gesprochen – die Datenmenge zunimmt, aus der sich dann bei Bedarf auch eine böse Botschaft destillieren lässt.

Nicht wenige, wie die Piraten, jubeln aber über die Möglichkeiten zur totalen Transparenz. Dürfen die Piraten nicht jubeln?

Oh doch, sie sollen jubeln, inspirieren, stören. Ich spreche hier als distanzierter Sympathisant. Aus meiner Sicht sind die Piraten hochsensible Problem-Seismografen der politischen Sphäre, Irritationsagenten der neuen Zeit, die verdrängte, bislang übersehene Themen auf die Agenda setzen: Sie machen – oft drastisch und häufig unterhaltsam – deutlich, dass etablierten Parteien die Sensibilität für die gewaltigen Veränderungen der Digital-Ära fehlt. Sie führen vor, dass es ein echtes Bedürfnis nach politischer Partizipation gibt. Ihre pauschale Glorifizierung von Transparenz, ihre Verachtung des Geheimnisses, ihre Vorschläge in Sachen Urheberrecht teile ich nicht, aber die antiautoritäre Geste wird gesellschaftlich dringend gebraucht. Und auch die Piraten wirken am Ende des Tages bei der Systemverbesserung mit.

Die Effekte sind widersprüchlich. Wer breite Aufklärung bei Guttenbergs Plagiat, über die Terrorzustände im Gefängnis von Abu Ghraib erreichen will, der muss am anderen Ende der Skala in Kauf nehmen, dass, wie beim Mädchenmord in Emden, ein unschuldig Verdächtiger an den Internet-Pranger gestellt werden kann.

Ich stimme Ihnen für den Moment zu – und wünsche mir doch, dass ich Ihnen eines Tages widersprechen kann. Natürlich ist der entfesselte Skandal im Augenblick ein Kommunikationsphänomen, das sich genau zwischen diesen beiden Extremen abspielt: dem miesen, grausamen und ekelhaften Spektakel auf der einen Seite und der sinnvollen, dringend benötigten Aufklärung über betrügerische Verteidigungsminister und entsetzliche Folter auf der anderen Seite. Ich hoffe aber darauf, dass sich die negativen Effekte eines Tages als beherrschbar erweisen. Allerdings wäre dazu ein völlig neues Konzept von Medienkompetenz notwendig, das in den Schulen und Universitäten des Landes Einzug hält und von folgender Annahme ausgeht: Journalismus, verstanden als das Gespür für die Glaubwürdigkeit, die Relevanz und Brisanz von Informationen, ist unabdingbarer Bestandteil der Allgemeinbildung.

Zensur und Informationskontrolle funktionieren nicht mehr

Deutschland ein Land voller Journalisten?

Natürlich heißt das nicht, dass nun alle Journalisten werden sollen, gewiss nicht. Aber mein Punkt ist: In den Zeiten des Web 2.0 und der barrierefreien Ad-hoc-Publikation muss jeder so handeln, als wäre er ein wirklich guter Journalist, empathisch, umsichtig, aber eben – wenn es einen echten Skandal gibt – auch mutig und entschieden.

Gibt es im digitalen Zeitalter noch so etwas wie ein effektives Skandalmanagement?

Nein, das sehe ich nicht – und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen sind die Daten und Dokumente womöglich weltweit verbreitet, die Skandalisierer bleiben oft anonym und sind nicht greifbar; zum anderen gibt es in den Weiten des Netzes keine zentrale Anlaufstelle, von der aus man – weithin sichtbar – eine Gegendarstellung und seine Version des Geschehens bekannt machen könnte. Und überdies erweisen sich häufig gerade die Versuche der Informationskontrolle als kontraproduktiv, auch Zensur funktioniert nicht wirklich. Man kann zeigen: Die Zensurforderung ist eigentlich längst ein entscheidendes Instrument der Mobilmachung.

Früher bestimmten Medien und damit Journalisten, was ein Skandal ist. Jetzt, im digitalen Zeitalter, bestimmt das Publikum als Akteur, was ein Skandal ist. Welche Rolle bleibt da noch den Medien und den Journalisten?

Sie sind nach wie vor zentral – als Chronisten, Analytiker und Verstärker des Skandals, die natürlich auch immer wieder eigene, nach den alten Mustern recherchierte Enthüllungen präsentieren. Überdies: Für die letzte Eskalationsstufe der Skandalisierung ist, das versuchen wir in unserem Buch zu zeigen, nach wie vor der Medienmix entscheidend, das Zusammenspiel alter und neuer Medien. Gesellschaftlich wirksame Empörung benötigt, auch im digitalen Zeitalter, offline wirksame Resonanzverstärker und klassische Leitmedien. Der allein netzinterne Protest verpufft häufig sehr schnell.

Ihr kategorischer Imperativ des digitalen Zeitalters lautet: „Handele stets so, dass dir die öffentlichen Effekte deines Handelns langfristig vertretbar erscheinen. Aber rechne damit, dass dies nichts nützt“. Eine Kapitulationserklärung, oder?

Das kann man so sehen. Aus meiner Sicht aber eher: ein Stück Realismus und ein Aufruf, sich mental mit den neuen Medienmöglichkeiten zu befreunden, überhaupt mit ihnen in Kontakt zu treten. Niemand kann auch nur ahnen, was morgen zum Skandal werden wird. Niemand kann wissen, welche seiner digitalen Spuren womöglich schon sehr bald unerwünschte, womöglich weltweite Aufmerksamkeit erzeugen. Das heißt: Wir alle sind blind für die mögliche Zukunft unserer Handyfilmchen, Twitterbotschaften, Mailboxnachrichten. Das ist es, was wir mit diesem Imperativ ausdrücken wollten: Es geht um den Versuch, ein neues Gespür für Medieneffekte zu entwickeln. Aber mit dem Scheitern ist unbedingt zu rechnen.

Bernhard Pörksen/Hanne Detel: Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter. Herbert von Halem Verlag, Köln 2012. 248 Seiten, 28 Abbildungen, 2 Tabellen. 19,80 €.

Bernhard Pörksen, 43, ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität

Tübingen.

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