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Magazin aus dem Slum: Maradonas mächtige Kehle

Die Bewohner eines Slums in Buenos Aires haben es satt, dass über ihr Viertel nur von Mord, Raub und Drogen berichtet wird. Sie gründen ein eigenes Magazin - und bringen Prominente wie Maradona und Messi dazu, ihren Mund für sie ganz weit aufzumachen.

Gähnend macht Alejandro die Tür auf. Es ist fünf Uhr Nachmittags in Zavaleta, einem Slum im Südosten von Buenos Aires. Hunderte kleiner Häuser, selbst gebaut und bunt bemalt. Von Weitem wirkt es, als habe jemand einen Haufen Bauklötze ausgekippt, ein Chaos aus Ziegeln und Zement – und mittendrin steht Alejandro und reibt sich die Augen.

21 Jahre ist er alt, groß und schlaksig, sein Gesicht ist noch etwas verknittert. „Ich hab’ gerade Siesta gemacht“, sagt er, „letzte Woche war ein bisschen stressig, da kam das neue Heft raus“.

Seit knapp eineinhalb Jahren arbeitet Alejandro als Redakteur bei der „Garganta Poderosa“. Auf circa 40 Seiten berichtet das Magazin einmal im Monat aus den Armenvierteln und Slums von Buenos Aires – und in nur zwei Jahren hat es die „Mächtige Kehle“, wie „Garganta Poderosa“ übersetzt heißt, von dort bis an die Kioske im schicken Norden der Stadt geschafft. Fast überall in Argentiniens Hauptstadt kann man heute die Zeitschrift kaufen, die Auflage hat sich seit der ersten Ausgabe versiebenfacht, von 3000 auf 23 000 Exemplare. Eine fantastische Erfolgsgeschichte – aus einer Gegend, aus der sonst nur schlechte Nachrichten kommen.

„Villas Miserias“ oder einfach nur „Villas“ werden Elendsviertel wie Zavaleta in Argentinien genannt. Allein in Buenos Aires gibt es zwei Dutzend von ihnen, wie viele Menschen hier leben, weiß niemand so genau, sicher ist nur, dass die Villas seit der Wirtschaftskrise 2001 unaufhörlich gewachsen sind. Viele Arme aus der Provinz wohnen hier, sie arbeiten als Bauarbeiter oder Putzfrauen – doch davon bekommt man in den Medien kaum etwas mit. Denn wenn es um die Villas geht, dann berichten die Zeitungen Argentiniens meist nur über Drogen, Raub und Mord, das Fernsehen begleitet regelmäßig die Polizei auf der Jagd nach mafiösen Banden. Zwar gibt es in den Villas auch Spielplätze und Sozialprogramme, doch Angst verkauft sich besser als gute Nachrichten – und so wird immer nur ein Teil der Realität abgebildet. Genau das will die „Garganta“ ändern.

Alejandro dreht die Musik ein bisschen lauter. „Cumbia Villera“, so etwas wie die argentinische Variante von Gangsta Rap, wummert aus den Boxen. Alejandros Matratze liegt gleich neben dem Konferenztisch, er hat gerade keine Wohnung, darum schläft er hier, in der Redaktion. Ein niedriger Raum, kaum größer als Matratze und Tisch, daneben ein kleines Zimmer, vollgestopft mit einem Dutzend alter Computer. Über ihnen hängen Bilder von Che Guevara und eine gigantische Kuba-Flagge.

2010 entstand hier die Idee zu einem eigenen Magazin. Damals hatte ein Fernsehsender einen Bericht über Zavaleta gesendet. „Das Viertel wurde darin als Vorhof zur Hölle dargestellt“, sagt Francisco. Vor acht Jahren ist er in die Villa gezogen, um dort Sozialarbeit zu machen. Nach der Fernsehsendung beschlossen er und ein paar Nachbarn, etwas gegen das schlechte Image zu tun. Sie organisierten ein Straßenfest und luden Radiosender und Zeitungen ein – aber niemand kam. „Damals haben wir gesagt: Jetzt reichts“, erzählt Francisco, „und dann haben wir unser eigenes Magazin gegründet, die ,Garganta Poderosa’“.

Ein Problem blieb: Wie sollte man die Leute dazu bringen, es auch zu kaufen? Indem das Heft exklusive Geschichten bietet, beispielsweise Interviews mit Stars.

Seit der ersten Ausgabe setzt die „Garganta Poderosa“ auf prominente Unterstützung. Damals hatte sie mit Glück ein Interview mit Fußballer Juan Román Riquelme bekommen. Ein Bekannter hat einen Bekannten, der wiederum Riquelme kennt und der machte mit. Es folgten weitere Stars wie Lionel Messi, Manu Chao und Maradona.

„Das mit Maradona war schon toll“, sagt Alejandro und setzt sich auf seine Matratze. Seit er denken kann, ist er Fußballfan, fast genauso lange ist Diego Maradona sein Idol. Alejandro war lange obdachlos, er schlief in Parks und bettelte. Als Maradona bei der WM 2010 die argentinische Mannschaft coachte, stellte Alejandro sich vor Elektroläden, um durchs Schaufenster die Spiele zu sehen. Argentinien wurde zwar nicht Weltmeister, dafür aber kam Alejandro kurz darauf durch Zufall zur „Garganta Poderosa“ – und weil dort ein Redakteur krank geworden war, wurde er nur einen Tag später zu einem Interview mit Diego Maradona geschickt. „Der hat sich fast drei Stunden für uns Zeit genommen“, sagt er und strahlt.

Keiner der „Garganta“-Redakteure hat eine journalistische Ausbildung und alle kommen aus den Armenvierteln. Die Leute, die über die Villa berichten, sollen auch in ihr wohnen. Und: Jeder soll mitmachen können. Jede Woche gibt es darum Schreib- und Fotoworkshops, die Redaktionssitzungen sind immer offen für Nachbarn, die ein Thema vorschlagen wollen.

Die Stars sind immer groß auf dem Titelbild zu sehen: Vorne mit aufgerissenem Mund, so etwas wie dem Markenzeichen der „Garganta Poderosa“, hinten mit einer Message. So ließ sich Maradona mit einer Geburtstagstorte für Fidel Castro ablichten und Messi mit einem Trikot von einem ermordeten Arbeiterführer.

Die Promis sind so etwas wie die Lockvögel: Die Fans, die sich die Hefte wegen ihrer Idole kaufen, sollen beim Durchblättern auf Artikel stoßen, die sie sonst nicht gelesen hätten. Wie beispielsweise den Text über einen Jugendlichen aus der Villa, der nur starb, weil die Sanitäter nicht bis in das Viertel fahren wollten. Aber auch über die Einweihung eines Spielplatzes in Zavaleta oder über Sportprogramme.

Das Geld für die erste Ausgabe haben sie in der Nachbarschaftsversammlung gesammelt. Seither finanziert sich das Heft alleine über den Verkauf. Zwölf argentinische Pesos kostet es, umgerechnet etwa zwei Euro. Ein vergleichsweise durchschnittlicher Preis für argentinische Magazine. In der Villa wird die „Garganta“ billiger verkauft, teilweise umsonst verteilt.

Dank der Promis auf dem Titel ist die „Garganta Poderosa“ zu einem begehrten Sammlerobjekt geworden, einige Ausgaben mussten schon nachgedruckt werden. Das Magazin finanziert heute nicht nur das Leben der Redakteure, sondern auch Sozialprojekte in den Villas.

Irgendwann soll die „Garganta Poderosa“ so groß sein, dass sie keinen Star mehr braucht. Dann sollen die Leute aus der Villa auf dem Titel sein, Alejandro, zum Beispiel, mit weit aufgerissenem Mund, und dann bestimmt nicht deshalb, weil er gähnen muss.

Christoph Gurk

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