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Deutschlands härteste Jugendrichterin. So oder so ähnlich lauteten die Urteile über Kirsten Heisig, die im Amtsgericht Berlin-Neukölln arbeitete.

© WDR

Doku: Mauer aus Glas

Ein befremdlicher Selbstmord? „Tod einer Richterin“ oder Spuren, die zu Kirsten Heisig führen können.

Letztlich begannen die Nachrufe auf Deutschlands bekannteste Jugendrichterin alle gleich: „Es kann nicht sein, dass sich eine Frau wie Kirsten Heisig das Leben nimmt“, schrieb „Die Zeit“. „Emma“ sprach von einem „befremdlichen Selbstmord“, als sei nicht jeder Selbstmord von dieser Art. Und es klang unüberhörbarer Tadel mit.

Schnellere, härtere Verurteilung von straffälligen Jugendlichen hatte Kirsten Heisig durchgesetzt, zuerst in Berlin-Neukölln. Als sie plötzlich im letzten Sommer unauffindbar war und alle – ja, sagen wir ruhig „alle“ – an einen Racheakt derer glaubten, denen sie so unbequem war, stimmten die geläufigen, wenn auch üblen Koordinaten noch, die uns die Welt erklären, mitsamt der zu lernenden Lektion: Wir müssen diese Koordinaten verändern! Weiter im Sinne Kirsten Heisigs!

Aber wie konnte eine solche Frau entscheiden, dass es für sie selbst kein Weiter geben sollte? Welcher Augenblick war dafür mächtig, ermächtigt genug? Schluss mit 48 Jahren, kurz vor Erscheinen ihres Buchs, auf dem Höhepunkt des Erfolgs, wie die Sprachregelung lautet. Den Autorinnen Güner Balci und Nicola Graef genügten alle Nachrufe und Erklärungen nicht, sie wollten es noch einmal genauer wissen, und das mit Kamera.

Bloß nicht!, riefen die zu Befragenden reihenweise und verbargen nicht ihr Befremden – hier mag das Wort wohl am Platz sein. Manche erhielten es aufrecht, andere ließen sich schließlich doch auf diese letzte Spurensuche ein. Da ist der Berufskollege und Freund, mit dem sie in Neukölln auf Eckkneipentour ging, auch wenn sie nur Kräutertee trank. Mit ihm hatte sie noch zuletzt das WM-Spiel Deutschland gegen Ghana gesehen und sich gefreut, dass ausgerechnet Mesut Özil, der Deutschtürke, das Tor gegen Ghana schoss. Und da ist die Schriftstellerin Monika Maron, die Kirsten Heisig in ihrem letzten Jahr kennengelernt hatte – zu einer wirklichen Freundschaft und größeren Nähe war das nicht genug Zeit. Doch die seismografisch begabte Schriftstellerin ahnte vieles und sah: Diese schmale Frau wurde immer schmaler.

Heisigs Mitverantwortlicher für das Modell Neukölln, Bürgermeister Heinz Buschkowsky, ist von solchem gleichsam optischen Verschwinden nicht bedroht, und weiß genau, was Kirsten Heisig fehlte: der Aus-Schalter.

In gewohnt schnellen Schnitten – beim Fernsehen scheint man noch immer zu glauben, dass wir einer Person höchstens zwei Sätze lang zuhören können, ohne die Implosion unserer Konzentrationsfähigkeit zu riskieren – umkreisen Güner Balci und Nicola Graef Person und Schicksal dieser ungewöhnlichen Richterin, finden sie gleichsam im Spiegel der Gesichter der Menschen, die ihr nahe waren. Ohne das Bild jedoch ganz scharf stellen zu können. Das hat Gründe. Wer war Kirsten Heisig denn nah? Die ihr Nächsten waren ferner gerückt, die Familie zerbrochen – auch an ihrem großen beruflichen Engagement? –, selbst wenn die Mutter nun erst recht für ihre Töchter da war. Wer immer so nach vorn geht wie diese Frau, braucht Rückzugsräume. Es gibt keine Gespräche mit den Angehörigen in diesem Film, und das ist richtig. Richtig ist auch, dass sich die Autorinnen aller Vermutungen enthalten. Vielleicht mussten sie am Ende selbst einsehen, dass sich ihre Warum-Frage nicht vor einem großen Publikum beantworten lässt.

Aber wenn im Film Sätze gesagt werden wie „Sie muss sehr krank gewesen sein“, sollte man doch gedanklich innehalten. Es war nicht einmal ein „Weg nach oben“, den diese Frau gegangen ist, aber es war ein Weg, der so im deutschen Justizwesen nicht vorgesehen war. Und niemand stört ungestraft die Routinen einer Behörde, eines Amtsgerichts. Es muss ein kafkaesker Weg gewesen sein, und die Mauer aus Glas um sie herum wuchs: Kollegen, die nicht mehr grüßten, der Isolierplatz mittags in der Kantine. Und das alles nur wegen ihrer so einfachen, so richtigen Wahrnehmung, dass die Zeit einer Institution und die Zeit junger Männer nicht dieselbe ist.

Jugendliche aus archaisch geprägten Kulturen, denen das Recht oft noch direkt von der Rache abzustammen scheint, haben durchaus Mühe, Urteil und Tat zusammenzubringen, wenn letztere schon eine Ewigkeit zurückliegt und deuten das lange Ausbleiben jeder Reaktion als Schwäche. Wir hören den noch heute überraschten, ungläubigen Erlebnisbericht eines Ersttäters, dem sie dennoch das volle Strafmaß aufbürdete: „Ich habe alles bekommen, obwohl das mein erstes Gerichtsverfahren war. Sie denkt, sie ist Gott...“

Das Schönste an diesem Film ist wohl die Reaktion des Vorsitzenden des türkischen Vätervereins, der über Kirsten Heisig spricht, als habe er eine Schwester verloren. Dass sie sich selbst nicht schonte, dass ihr Engagement und Interesse echt waren und weit über das einer Richterin hinausgingen, hat nicht nur er gespürt.

Nein, man muss nicht „sehr krank“ sein, um keine Kraft mehr zu finden. Die Welt und die anderen Menschen wie hinter Glas zu erleben, ist möglicherweise nur eine besonders schonungslose Form von Realismus. Und eine tragische Perspektivverkürzung: Wer so wie sie Härte forderte, sah sich selbst wohl nicht mehr als hilfeberechtigt an. Was Kirsten Heisig zu dem Umsturz in der islamischen Welt gesagt hätte?

„Tod einer Richterin“, ARD, 22 Uhr 45

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