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"Unseren Star für Bellevue" sucht Günther Jauch am Sonntagabend in seiner ARD-Talkshow.

© Das Erste

Medien: Mehr Gedanken, weniger Abendbrot

Die Präsidenten-Runden zeigen: Fernseh-Deutschland braucht eine Talkshow.

„Heut’ mach ich mir kein Abendbrot, heut’ mach ich mir Gedanken.“ Schöner, bissiger Gedanke von Wolfgang Neuss. Wenn der 1989 gestorbene Kabarettist noch lebte, könnte er seinen Appell gleich selber umformulieren: Heut’ Abend schaue ich keine Talkshow an, heut’ mache ich mir meine Gedanken selber. Aber weil das so eine Sache ist mit dem eigenen Gedankengut, schalten viele lieber die Talkshow ein. Am Sonntag waren es wieder Millionen: 4,28 bei „Maybrit Illner Spezial“ im Zweiten, im Ersten 5,22 Millionen bei „Günther Jauch“. Wer beides gesehen hat, konnte eine Talkshow vor Gauck und eine danach sehen. Während Illner das Casting „Deutschland sucht den Super-Präsidenten“ in Gesprächsform betrieb, stellte Jauch sich der Frage, ob die politische Jury im Kanzleramt „Unseren Star fürs Bellevue“ gecastet hat.

Schieben wir heute ausnahmsweise mal die fernsehkritische Frage beiseite, ob die Talks am Sonntag – insbesondere bei der Gästeauswahl Nahles/Schumacher/Bosbach – auf der Höhe des TV-Formates waren. Fassen wir lieber das Neuss-Zitat ins Auge: Talks mögen zuweilen das Fremdschämen befördern, für einen großen Teil des Publikums sind sie die Verlängerung, wenn nicht der Ersatz eigener Überlegungen. Im Gedankenbild einer Runde – was meistens nur das Meinungsbild der Gäste ist – kommen Aspekte und Perspektiven auf, die der einzelne Zuschauer selbst bei Nähe zum Thema gar nicht haben kann. Zudem sind die Talkshowmacher clever genug, über Einleitung und Einspielfilme das Publikum so weit zu informieren, dass dieses zumindest weiß, wovon die Rede ist. Talkshows machen selten schlauer und noch selten klüger, sie fördern in ihren besten Ausgaben aber das Mitkommen, das Mitmachen, das Mitreden. Sie liefern Einsichten, produzieren Argumente und Zitate für den Meinungskampf in der Familie, am Arbeitsplatz. Einfach, frei Haus, gerne dargereicht in Breichen-Form fürs unfallfreie Schlucken und Verdauen.

„Maybrit Illner Spezial“ war am Sonntag auch deswegen so erfolgreich, weil die Sendung nach den „heute“-Nachrichten gesetzt war. Dafür musste „Berlin direkt“ den Heldentod sterben, das Hauptstadtmagazin. Es ist eine unbewiesene, doch mögliche Behauptung, dass das breite Publikum für sich vom Talk mehr erwartet als von der Hardcore-Politik-Zusammenschau. Das Erste war auch nicht doof. Zwischen „Polizeiruf 110“ und „Günther Jauch“ wurden vier Minuten „Tagesthemen Extra“ geklemmt mit der News von der Gauck-Kür (die bereits im Krimi per Laufband verbreitet worden war). Für die jeweils folgenden Talks im Ersten und im Zweiten war das eine exzellente Eröffnung. Erst informieren und dann das Publikum verstehen machen – keine schlechte Idee.

Die Talkshow als das Lagerfeuer für Meinungs-Deutschland? Es gibt im Fernsehen mehrere Formate, um einen Nachrichtentag abzubinden. „Tagesthemen“, „heute-journal“, RTL-„Nachtjournal“ sind solche Auffangbecken, aber sie sind eben keine Klärbecken. Talkshows können aufarbeiten, verarbeiten. Late-NightShows wie die von Harald Schmidt sind für die Avantgarde, die Schon-Bescheidwisser. Was Fernseh-Deutschland braucht, ist eine Talkshow am Abend. Haben wir schon, massenhaft, wird doch dauernd gequatscht! Gemeint ist eine Fernsehutopie aus JauchPlasbergWillIllnerPhoenixRunde. Wo Gedanken gemacht werden, wo Gedanken fliegen, wo der Zuschauer Appetit bekommt aufs Selberdenken. Also Wolfgang Neuss würde das interessieren. Joachim Huber

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