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Harald Martenstein.

© C. Bertelsmann

Heute Autor, morgen Schriftsteller?: Seitenwechsel, Soloalben

Vom Reporter, Fernsehmann oder Kritiker zum Primärproduzenten: Warum Journalisten immer mehr Bücher schreiben.

Als Fritz J. Raddatz, damals gerade seines Postens als „Zeit“-Feuilletonchef enthoben, 1986 anlässlich der Veröffentlichung seines Debütromans „Kuhauge“ in Frankreich von der „Libération“ interviewt wurde, stieß er kurz darauf einen verzweifelten Seufzer aus: „Warum habe ich nicht vor vielen Jahren umgeschaltet und, statt meine Energien und menschlichen Qualitäten auf andere zu werfen, mich um mich selber gekümmert, warum habe ich nicht früher angefangen, ,Primär-Literatur’ zu schreiben?"

Was Raddatz umtrieb und in seinen kürzlich veröffentlichten „Tagebüchern 1982 – 2001“ oft reflektiert, auch, weil er viele höhnische Verrisse für seine Romane „Kuhauge“ und „Wolkentrinker“ einstecken musste, ist heute gang und gäbe: Journalisten schreiben nicht nur Sachbücher, sondern produzieren „Primärliteratur“. Sie wechseln die Seiten, verfassen Romane und verstehen sich als Journalisten oder Kritiker genauso wie als Schriftsteller oder wenigstens Buchautoren.

Blättert man durch aktuelle Verlagsprogramme, stehen in den meisten belletristische Titel von Journalisten. Ob das „Und der Zukunft zugewandt“ bei Bloomsbury Berlin ist, ein Roman des ARD-Politmannes Werner Sonne, oder der Roman „Königstorkinder“ des „Spiegel“-Reporters Alexander Osang bei S. Fischer. Ob das Tagesspiegel- und „Zeit“-Autor Harald Martenstein mit „Gefühlte Nähe“ bei C. Bertelsmann ist, der „Musikexpress“-Redakteur Jörg Harlan Rohleder mit „Lokalhelden“ bei Piper oder die Literaturkritikerin Katharina Döbler mit „Die Stille nach dem Gesang“ bei Galiani: Die Namen und Titel sind Legion, die Stoffe so vielfältig wie bei den Schriftstellern im Erstberuf, vom Aufwachsen in der Provinz über das Zusammenwachsen von Ost und West bis zu jüdischen Schicksalen in der Nachkriegszeit und der Liebe sowieso. Ganz zu schweigen von den vielen Autoren, die den Fachbereich „erzählendes Sachbuch“ enorm ausgebaut haben, etwa Moritz von Uslar mit seiner Brandenburg-Reportage „Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung“, um nur einen Titel zu nennen, der diesen Herbst für Aufsehen gesorgt hat.

ARD-Mann Werner Sonne.
ARD-Mann Werner Sonne.

© WDR/Herby Sachs

Raddatz musste viel Prügel einstecken dafür, dass er es wagte, als Kritiker Romane zu schreiben, diese gerade in Deutschland so lange bestehende Kluft zu überbrücken. Auch in den achtziger Jahren galt das Diktum, das Marcel Reich-Ranicki in einem Verriss eines Buches seines Kollegen Reinhard Baumgart 1962 so formulierte: „Andersartige Fähigkeiten, ja, eine ganz andere psychische und intellektuelle Struktur ist für den Epiker erforderlich, eine andere für das Amt des Kritikers.“ Die Trennung von literarischer Kritik und literarischer Produktion, von „Primär“ und „Sekundär“, verwischte sich in größerem Maß erst in der Blütezeit der Popliteratur Ende der neunziger Jahre.

Der zunächst für den „Rolling Stone“ und die „taz“ schreibende Benjamin von Stuckrad-Barre veröffentlichte seinen Roman „Soloalbum“, Florian Illies, damals bei der „FAZ“, analysierte erzählend die „Generation Golf“, und auch Feuilleton und Literatur näherten sich an, Stichwort Popjournalismus. Nicht als Schreiben über Popmusik zu verstehen, sondern als spezielle Schreibweise; erzählt wurde nun auch im Feuilleton – umgekehrt gab es viele Bücher, die nicht unbedingt auf lange Halbwertszeiten aus waren, die nicht primär den Anspruch hatten, literarischen Eigensinn zu entwickeln. Das stellte sich mal als Segen, oft aber auch als Fluch heraus. Soloalben und Generationsbücher erschienen in Folge fast inflationär. Und immer wieder kam die Frage aus dem Kollegenkreis: Was hast du denn für ein Manuskript in der Schublade?

Die Popliteratur gibt es nicht mehr, auch wenn die lustigen Berlin-Mitte-Bücher von Rafael Horzon („Das weiße Buch“) oder Sascha Lobo („Strohfeuer“) nichts anderes sind. Ihre Saat ist aufgegangen, was die Berliner Literaturagentin Karin Graf aber eher nüchtern sieht. Einen Trend zu Journalistenbüchern erkennt sie nicht: „Ich mache seit fünfzehn Jahren Bücher von Journalisten, vor allem Sachbücher, da hat sich nicht viel geändert. Wenn es einen Trend gibt, dann zu Fernsehgesichtern. Wenn bekannte Fernsehjournalisten eine Idee haben oder einen Roman schreiben, kommen die leichter bei Verlagen unter." Bei Kiepenheuer & Witsch in Köln, wo viele Bücher von Journalisten erscheinen, orientiert man sich vor allem an der Qualität: „Im Idealfall paart sich Stil mit thematischer Originalität. Auch wenn journalistische Schreibe und literarischen Erzählstimme nicht zusammenfallen, gibt es einen spezifischen Ton, der sich übertragen lässt", sagt Olaf Petersenn, Lektor für deutschsprachige Literatur bei KiWi. „Letztlich muss der Text aber Qualität und Niveau haben. Und auf Dauer lassen sich beide Rollen kaum vereinbaren, wenn es ums literarische Schreiben geht."

Literaturkritikerin Katharina Döbler.
Literaturkritikerin Katharina Döbler.

© Katharina Behling

Fragt man Autoren, regiert ein Pragmatismus, der wenig mit den koketten Raddatz-Skrupeln zu tun hat. Harald Martenstein verweist auf schreibende Ärzte, Juristen und andere Berufsgruppen: „Warum sollen Journalisten nicht Romane schreiben. Hemingway oder Garcia Marquez haben das auch sehr schön hinbekommen.“ Martenstein versteht es für sich als logischen Schritt, Romane zu verfassen: „Die Kolumne ist ja eine Art des literarischen Erzählens. Und: Ich tue mich immer leichter damit, eine Geschichte zu erzählen, als knallhart zu recherchieren. Es macht einfach mehr Spaß." Auch Sophie Albers, Redakteurin bei stern.de, beschreibt die Entstehung ihres im Frühjahr 2011 erscheinenden Debütromans „Wunderland“ als natürlichen Prozess. Nachdem sie Interviews mit Berliner Rappern und deren Fans geführt hatte, bekam sie Einblicke in die Welt der Migrantenkids. Unabhängig von den Interviews begann sie, Geschichten darüber zu schreiben. „Ich hatte so viele in mir, die habe ich zunächst nur für mich geschrieben. Über einen Freund sind die dann bei einer Agentur gelandet.“ – „Außerdem“, ruft Albers begeistert ins Telefon: „Es ist total großartig, etwas zu erfinden!“

Und Max Dax, der nach seiner Demission als Chefredakteur des Popkultur-Magazins „Spex“ ebenfalls an einem Roman für den Merve Verlag sitzt, hat eine simple Erklärung dafür: „Mein Roman hat sich praktisch von selbst geschrieben." „Dissonanz“, so der Titel, basiert auf einem täglichen Blog von Dax. Nachdem erst der Residenz Verlag Auszüge veröffentlichen wollte, fragte Merve nach der vollständigen Fassung. Dax sagt, das Blogschreiben wäre „eine Ausweitung der Konzentration in die sogenannte Freizeit“ gewesen, „ein Heraustreten aus dem Hamsterrad der Magazinproduktion.“ Sein Roman ist eine Zweitverwertung. Obwohl er zugibt, den Blog nach den Anfragen thematisch gezielter, sorgfältiger geführt zu haben.

Schreiben ohne Druck, Abwechslung, Spaß am Erfinden, die Nähe von Kolumnen zu Geschichten: Gründe für den Seitenwechsel gibt es viele. Und Befürchtungen, von Kollegen misstrauisch beäugt, gar überkritisch behandelt zu werden, muss niemand mehr haben. Gab es früher viel Haue, dominiert heute bei der Rezeption der Journalistenbücher eher Sanftmut. Zuweilen erkennt man, was unangenehm ist, richtiggehende Feuilletonseilschaften. Wiewohl es auch den gezielten Verriss mit Abrechnungscharakter noch gibt, Ausnahmen bestätigen die Regel.

Der gute Fritz J. Raddatz jedenfalls dürfte seinen Frieden mit der Kritik gemacht haben. „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher, Autor von Büchern wie „Der Methusalem-Komplex“ oder „Payback", bescheinigte ihm gar, mit dem Tagebuchband „den großen Gesellschaftsroman der Bundesrepublik“ verfasst zu haben. Das hätte wohl selbst der Romanautor Raddatz nie zu träumen gewagt.

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