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SlowTV: Zuschauer, die auf Züge starren

Prasselndes Kaminfeuer, mehrtägige Bahnfahrten oder Wollpullover in der Entstehung: „Slow TV“ erzielt in Norwegen Spitzenquoten. Dabei gab es im deutschen Fernsehen schon Entschleunigtes, bevor es cool wurde.

260 Seiten ist das Buch dick, ein Bestseller, der sogar den Softpornoroman „50 Shades of Grey“ übertrumpft und sich um etwas dreht, das die Norweger ziemlich sexy finden: Holz. Mit „Hel Ved“ („Solides Holz“) hat Autor Lars Mytting eine Art Brennholz-Bibel verfasst, es geht darin nicht nur ums Hacken, Stapeln und Trocknen, sondern vor allem um die „Seele des Feuermachens“ – und die ist bei seinen Landsleuten so ausgeprägt, das sie nun auch im Fernsehprogramm zur besten Sendezeit bedient wird.

„Slow TV“ heißt der Trend, mit dem der norwegische Sender NRK rekordverdächtige Spitzenquoten erzielt. Statt dramatischer Cliffhanger, actionreicher Verfolgungsjagden, atemberaubender Spannung wird Entschleunigungsprogramm gezeigt: Prasselnde Kaminfeuer, Bilder von Zug- und Kreuzfahrten durch die Fjordlandschaften, Angler beim Lachsfischen, stundenlang. „Es ist Reality TV im wahrsten Sinne des Wortes: Etwas Authentisches, das ohne Bearbeitung in Echtzeit gezeigt wird“, sagt Programmdirektor Rune Moeklebust.

Ins Leben gerufen worden ist das Konzept 2009, als die Zugstrecke Bergen - Oslo ihren 100. Geburtstag feierte. Die landschaftlich spektakuläre Fahrt von sieben Stunden und 16 Minuten filmten die Produzenten in voller Länge mit Bordkameras, lange, dunkle Tunnelstrecken füllten sie mit Archivmaterial.

Mit überwältigendem Erfolg wurde das Experiment schließlich auf NRK2 ausgestrahlt: Rund 1,2 Millionen Zuschauer, fast ein Viertel der norwegischen Bevölkerung, verfolgten die Reise zumindest teilweise aus ihrem Wohnzimmer. „Als ich ein paar Tage später fragte, ob ich den Äther mit fünfeinhalb Tagen Livesendung vom Küstenexpress belegen kann, bekam ich zur Antwort ,ja, natürlich‘“, erzählt Moeklebust.

Fünfeinhalb Tage fuhr ein Schiff live durch die Fjorde - und 3,2 Millionen Norweger schauten zu

Und wieder war es ein durchschlagender Erfolg: 3,2 Millionen TV-Zuschauer sahen phasenweise zu, Hunderte Schaulustige begrüßten den Küstenexpress in verschiedenen Häfen. Die ruhig dahinplätschernde Sendung war für manche wie eine Droge, Andere wähnten sich gar selbst an Bord: Ein Zuschauer erzählte, wie er in seinem Wohnzimmer nach dem Gepäck suchte, als der Zug von Bergen nach Oslo in den Zielbahnhof einlief.

Doch nicht nur Reisefilme wirken hypnotisierend auf das norwegische Fernsehpublikum. Auch Filme über das Lachsfischen und das Stricken werden gezeigt. Das Rezept ist dabei immer simpel: Einer langen Einführung mit historischem Hintergrund folgt eine noch längere Studie der eigentlichen Aktivität. Stricken beispielsweise beginnt beim Schafscheren und endet mit dem letzten Nadelstich an einem Pullover.

„Slow TV ist für alle Bevölkerungsgruppen attraktiv: Junge Leute sind fasziniert vom Reiz des Neuen und Ungewöhnlichen, ältere Zuschauer finden das Thema oder die Reise selbst interessant“, sagt Moeklebust. Für manche sei es Flucht aus der immer hektischeren Gesellschaft.

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Für Fischfans: Sechs Stunden Großaquarium. (Für Ungeduldige: Ab Minute 12:45 kommt von links der Walhai groß ins Bild)

„Wenn die meisten Sender sich für das gleiche Programmformat entscheiden, ist es verlockend, in einer Nische gegen den Strom zu schwimmen“, sagt der Soziologe Arve Hjelseth von der Universität in Trondheim. „Slow TV ist eine Chance für die Leute, sich hinzusetzen, zu entspannen und nachzudenken.“ Ob die norwegische Spezialität exportiert werden kann? In den USA wurden die 134 Stunden Material vom Küstenexpress auf eine Stunde gekürzt.

Im deutschen Fernsehen gab es „Slow TV“ bereits zu sehen, als der Trend Entschleunigung noch gar nicht erfunden war. „Die schönsten Bahnstrecken Deutschlands“ hieß die Sendung, in Variation auch „Die schönsten Bahnstrecken Europas“ und „Die schönsten Bahnstrecken der Welt“. Die Sendungen liefen aber nicht etwa zur Primetime, sondern nachts, meistens zwischen 3 Uhr 30 und 5 Uhr 30, um Lücken im Programm zu füllen, zum ersten Mal am 3. September 1995. Zu Beginn wurde eine Grafik der Strecken eingeblendet, gefilmt wurde aus dem Führerstand heraus, immer stur geradeaus, ohne Seitenschwenks auf Sehenswürdigkeiten am Wegesrand.

Seit Oktober werden die „schönsten Bahnstrecken“ durch „Deutschlandbilder“ ersetzt, 80 000 Menschen schauten 2013 durchschnittlich das Lückenfüller-Programm an.

Im Netz wartet Google mit sechs Stunden Transsib - der BR lockt mit der "Space Night"

Im Netz hat sich längst eine eigene Führerstand-Fangemeinde gebildet. Hunderte Youtubekanäle beschäftigen sich mit dem Bahnfahren, manche zeigen den Berliner S-Bahn-Ring, andere Fahrten von Berlin nach Hamburg. Der Kartendienst Maps von Google bietet sogar eine interaktive Fahrt der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostok – sechs Tage dauert das Video. Als Soundtrack kann man unter anderem das Hörbuch von „Krieg und Frieden“ wählen. Neben Bahnfahren sind auf dem Videoportal Kaminfeuer, Traktorfahrten und Aquarien beliebt. Einige Clips des Immergleichen schaffen über 2,5 Millionen Klicks. Und verkaufen sich auch auf DVD: Zwei deutsche Bauern produzieren seit Jahren Landwirtschaftsdokumentationen wie „Maisernte – Die stärksten Feldhäcksler der Welt“ in Zehntausender-Auflage.

In Deutschland knüpft vor allem die „Landlust“ an den Entschleunigungstrend an. Mehr als eine Millionen Exemplare verkauft das Magazin, das alle zwei Monate erscheint und sich den „schönsten Seiten des Landlebens“ widmet. Holzhacken, Angeln und Stricken gehören auch hier zu den Top-Themen. Auch der Bayrische Rundfunk setzte auf Entschleunigung, bevor sie hip war: Seit 1995 läuft nachts die „Space Night“, tiefenentspannende Weltraumbilder mit sanfter Elektromusik. Erst vor zwei Monaten startete die Sendung neu mit Gema-freier Musik.

Und weil „weniger Stress“ für viele Menschen zu den Vorsätzen fürs neue Jahr gehört, hilft der RBB-Sender Radio Eins bei der Umsetzung. „Slowtime“ statt Showtime heißt es ab Montag bis Monatsende. Auf der Homepage werden bereits jetzt Entspannungsübungen für zwischendurch angeboten, ab dem 6. Januar dann Entspannungsaktionen in der ganzen Stadt mit kostenlosen Yoga-, Tai-Ji- und Mediationskursen. Auch für die Augen gibt’s Programm zum Abschalten: Auf der Radio-Eins-Homepage sind die Fische aus dem ORB-Aquarium zurück. Sie waren 1992 statt des Testbilds gezeigt worden. Jetzt gibt es sie wieder im Livestream zu sehen, beruhigendes Blubbern inklusive.

In Norwegen wird derweil weiter „Slow TV“ geplant. Ein Film zum Thema Zeit. Gezeigt werden soll die Herstellung einer Uhr, anschließend, wie die Minuten und Stunden vergehen. (mit AFP)

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