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Kein Verständnis haben viele türkische Medien wie die deutschsprachige Ausgabe der Tageszeitung „Hürriyet“ dafür, dass türkische Journalisten keinen Platz beim NSU-Prozess bekommen sollen. Foto: dpa

© dpa

Stimmen und Stimmungen: Unter Vertuschungsverdacht

Deutschland macht nicht nur mit dem Streit um den NSU-Prozess Schlagzeilen in türkischen Medien.

Deutschland ist in den türkischen Medien immer für eine Schlagzeile gut – derzeit fallen die Überschriften allerdings fast durchweg negativ aus. „Wieder ein Brand in einem türkischen Haus in Deutschland“, titelte „Hürriyet“ nach dem tödlichen Feuer von Köln am Osterwochenende. „Milliyet“ berichtete unterdessen von einem „Neonazi-Telefonat“ des türkischen Außenministers Ahmet Davutoglu mit seinem Berliner Amtskollegen Guido Westerwelle, bei dem es um den Prozess gegen die mutmaßliche Neonazi-Terroristin Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Helfer und Unterstützer der Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) ging. Die Meldungen der Medien über mutmaßliche oder tatsächliche rechtsextreme Gewalt verstärken ein Bild von Deutschland als Ort, wo Türken unter ständiger Bedrohung durch Nazis leben.

Die Brände von Köln und Backnang sowie der Streit um die Sitzplatzverteilung beim NSU-Verfahren, das am 17. April vorm Münchner Oberlandesgericht beginnt, passen in der Wahrnehmung der türkischen Öffentlichkeit zur Erinnerung an die Brandanschläge von Solingen und Mölln in den 1990er Jahren – diese Erinnerung ist in der Türkei viel wacher als in Deutschland. Als die Zeitung „Vatan“ nach dem Tod von sieben türkischen Kindern und ihrer Mutter bei dem Brand von Backnang im Februar die Frage „Ein neues Solingen?“ zur Überschrift machte, konnten die Blattmacher sicher sein, dass ihre Leser keine weiteren Erläuterungen brauchen würden. Jeder neue Hausbrand in Deutschland erinnere die Türken an Mölln und Solingen, sagte der nordrhein-westfälische Grünen-Politiker Arif Ünal der Deutschlandausgabe der Zeitung „Zaman“. Diese Woche berichteten die türkischen Medien ausführlich über Äußerungen des Vizepremiers Bekir Bozdag, der nach dem Feuer von Köln die Frage gestellt hatte, warum immer nur von Türken bewohnte Häuser in Deutschland in Brand gerieten. Das türkische Außenamt erklärte am Dienstag besorgt, in Deutschland häuften sich in jüngster Zeit verdächtige Fälle von Hausbränden.

Die Regierung brachte damit den in der Türkei weitverbreiteten Verdacht zur Sprache, wonach die deutschen Behörden stets versuchen, fremdenfeindliche Straftaten zu verniedlichen oder ganz unter den Teppich zu kehren. Dieser Generalverdacht löste im Zusammenhang mit dem Münchner NSU-Prozess viele kritische Kommentare aus, weil das Gericht türkische Medien auf die Warteliste setzen ließ und auch eine Platzreservierung für den türkischen Botschafter ablehnte – trotz einer entsprechenden Bitte des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag.

Selbst Deutschlandkenner unter den türkischen Journalisten wie Oral Calislar, Chefredakteur des unabhängigen Enthüllungsblattes „Taraf“, hegen den Verdacht des Vertuschungsversuchs. Völlig unverständlich sei es, dass beim Münchner Prozess keine türkischen Journalisten im Saal sein sollen, sagte Calislar dem Tagesspiegel. Schließlich gehe es um acht türkische Mordopfer und die ungeklärte Frage, ob deutsche Sicherheitskräfte in die Verbrechensserie verwickelt gewesen seien. Türkische Beobachter seien deshalb besonders wichtig.

Bei Calislar und anderen Kommentatoren taucht dabei das Stichwort des „tiefen Staates“ auf: Damit meinen die Türken rechtsgerichtete Bürokraten, Militärs und Geheimdienstler, die mit Gewalt und teilweise im Bündnis mit Rechtsextremisten gegen angebliche Feinde des Staates vorgehen.

Seit einigen Jahren laufen in der Türkei Mammutprozesse gegen mehrere hundert mutmaßliche Mitglieder des „tiefen Staates“, die im Geheimbund „Ergenekon“ den Sturz der Erdogan-Regierung angestrebt haben sollen. In den NSU-Morden erblicken viele Türken nun die deutsche Version des „tiefen Staates“.

Bei aller Verärgerung über das Münchner Gericht zollen einige Beobachter den Deutschen aber auch Respekt. Es gebe in der Bundesrepublik eine breite Solidarität mit den vom Verfahren ausgeschlossenen Türken, kommentierte Fatih Cekirge, Kolumnist der „Hürriyet“. Von den deutschen Rechtsradikalen einmal abgesehen unterstützten alle Parteien, Verbände und Juristen in der Bundesrepublik die Forderung nach einer türkischen Präsenz im Gerichtsaal. Von dieser Solidarität könne die Türkei für das eigene Land viel lernen.

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