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Tom Schilling und Nora von Waldstätten.

© Oliver Vaccaro/ZDF

Theaterfilm: "Woyzeck" im Wedding

„Woyzeck“ krepiert heute: Eine faszinierende Arte-Verfilmung von Georg Büchners Menschenstück mit Tom Schilling in der Titelrolle.

In einem U-Bahnschacht hat der Abfallwegräumer seinen Traum aufgehängt. Er betrachtet die Anzeige für ein Kleinfamilienhaus, wieder und wieder. Ein Häuschen für seine Marie, für ihn, für das gemeinsame Kind. Sein Restaurant „Die Garnision“, ein besserer Imbiss mit der Aufforderung „Trink dein Bier hier“, hat er an die Mafia verloren, es heißt jetzt „Habibi“. Dort schuftet der hochverschuldete Woyzeck in der Küche. Will dem neuen Besitzer ad personam zeigen, dass er sich im eigenen Viertel von Türken und Arabern nicht „verarschen lassen“ möchte. Seine beiden Kumpels Andres und Louis machen ebenfalls den Dreck weg in der U-Bahn. Beschränkte Ausländerfeinde sind die beiden, sie klauen der Kiezgröße, dem Herrscher über Prostitution und Drogen, die Reifen seines Maseratis und bieten sie auf einem Hinterhofmarkt feil. Idiotische Aktion, denn im Berliner Wedding kann sich nur einer einen Maserati leisten. Die Gang der Kiezgröße wird den provozierenden Diebstahl rächen. Und Woyzeck, verloren und fremd im eigenen Leben, wird gewalttätig, zum Messer greifen.

Woyzeck? Ja, Franz Woyzeck. Die Titelfigur des Dramenfragments, 1836/37 von Georg Büchner geschrieben. Eine Figur über den Zeiten, zeitlos modern. Nuran David Calis holt Woyzeck in den Wedding, der Regisseur und Autor hat für so etwas Expertise und Erfahrung, 2009 inszenierte er Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ als Theaterfilm. Jetzt also „Woyzeck“. „Das Original ist das Fundament, auf dem dieser Film steht“, sagt Calis. Das Theaterstück wird Film. Das gelingt. Das gelingt nicht immer.

Die Interpretation geht über das Menschendrama hinaus. Woyzeck gehört zur deutschen Mehrheitsgesellschaft, die in die Minderheit geraten ist. Und Woyzeck ist wieder Minderheit in der Minderheit. Der Weddinger „Woyzeck“ ist auch ein Spiel um Identitäten. Der Mensch auf dem ununterbrochenen Weg nach unten sucht als Reinigungskraft, Küchenhilfe und als Laborratte einen schöneren Überlebensort für seine Kleinfamilie. Er will ein anderer werden, will anders werden, als er jetzt ist. Will seiner verstörten, einsamen Marie ein Kerl, ein Glücksbringer sein. Der weite Himmel ist sein Horizont nicht, seine Perspektive ist der Schacht, in den die drei am Ende verschwinden.

"Woyzeck" als Milieufilm

Die Deutschen im Wedding sind Loser, allesamt, Putzkolonne, Prostituierte, Kleinkriminelle, die Türken und Araber haben das Sagen – als Drogenverticker, Dreckmacher, als Zuhälter. Das ist eine aufregende Verarbeitung der Büchner’schen Vorlage, sinnstiftend, prall in der Situation, satt in der Figurenzeichnung, der Außenseiter wird auch hier nicht romantisch. Ein erstklassiger Milieufilm, das ist dieser „Woyzeck“. Der militärische Komplex bei Büchner wird bei Calis zum gesellschaftlichen Ort.

Oben Wedding, unten „Woyzeck“. Oben „Halt deine Fresse, du dumme Fotze“, unten „Es ist so still, so still, als sei die Welt tot“. Der Büchner und der Calis stehen sich mitunter im Weg, da verkantet sich was, was sich nicht unbedingt verkanten muss. Ja, da unten im Dunkeln wird’s theatralisch, Projektion, es wird auf Distinktion geschaut. Der Film schlüpft aus sich heraus, geht zu sich selbst auf Abstand und drängt mit seiner plötzlichen Künstlichkeit den Zuschauer in die Reflexion. In dieser Verdopplung wird die mögliche Identifikation mit dem Nichthelden gebrochen. Szenen wie Halluzinogene. Tom Schilling brillant.

In Woyzeck, auch in Marie, läuft das zusammen, in den übrigen Figuren läuft es in die Fläche. Der Tambourmajor, hier der Kiezkönig (Simon Kirsch) mit Migrationshintergrund, mischt Charisma mit Brutalität, die dicke Hose eben. Der Doktor (Gunnar Teuber), der den Probanden Woyzeck in Halluzination, Impotenz, Schlaflosigkeit treibt und die „Pferdchen“ vom Kiezchef mit Pillen gefügig macht, markiert die Kanaille; der Hauptmann und jetzige Restaurantbetreiber (Georgios Tsivanoglou) öffnet den Mund, sagt überraschenderweise: „Er hat keine Moral. Moral, das ist, wenn man moralisch ist.“ Dann lässt er sich vom Arzt ordentlich was in die Vene spritzen. Was da gesagt wird, ist ja kein dummes Zeug, es ist nur, wenn dem „Habibi“-Chef solche Sätze aus dem Mund fallen, streckenweise albern. Geht „Woyzeck“ auch als Karikatur? Geht. Ist aber eben Karikatur. Hier beißen sich Originalzitate und Aktualisierung, Parabel und Realismus.

Tom Schilling und Nora von Waldstätten, der Woyzeck und seine Marie. Der Untote und die Totenblasse in den Berliner Straßen, verkoppelt, getrennt, Glück und Unglück für den jeweils anderen. Schilling überdreht selbst in den zweifellos theatralischen U-Bahnsequenzen nicht, er hält seinen Franz in der schmalen Spur, er ist nicht die moralische Figur, in der sich die Amoralität der Mit- und Gegenspieler aufzeigen soll. Schillings Woyzeck kämpft, nicht passiv erträgt er seine Situation, die anders als in der klassenkritischen Vorlage sehr viel stärker ökonomisch begründet ist. Sein Dilemma ist vordringlich sozial. Von Autoritäten wird er weniger gequält als von den Um- und Zuständen. Tom Schilling riskiert da was, sein Franz endet als Kreatur, die das Verderben begrüßt.

Die Alabasterschönheit Marie, das ist Nora von Waldstätten. Sie muss fasziniert sein vom Tambourmajor, einem „Mann, der aufpasst auf seine Frauen“. Leer ist das Dasein als Nurmutter und Lebensgefährtin des impotenten, arbeitssüchtigen Woyzeck. Im Katzenblick liegt die Aura einer Person ohne Persönlichkeit. Die Figur atmet durch die Haut.

Regisseur Calis findet den Rahmen, und er stellt die Bilder her, die den klassisch-ungebundenen Stoff in der Gegenart erden. Büchner ist relevant, dito dieser „Woyzeck“. Die wenigen Handlungsorte visualisieren in ihrer Begrenztheit die mentale Enge der Figuren. Es ist ein Entkommen nicht drin. Sound, Parallelmontagen, Traumpassagen schauen in diesen Franz hinein, der in die Welt schaut und sie nicht dechiffrieren kann.

Schundende mit blutigem Messer, Regen, Leuchtreklame. Arthouse wird gefühlig. Herzkino. Aber erst auf den letzten Metern.

„Woyzeck“, Arte, Montag, 22 Uhr 40, 3sat, Samstag, 22 Uhr

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