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Schlussakkord. Bei der Trauerfeier für ihren Mann Mischa bekommt Stella (Marie Bäumer) von Victor Lushin (Jevgenij Sitochin) ein lukratives Angebot. Aber die Witwe hat eigene und, wie sie findet, bessere Ideen.

© ARD/Julia von Vietinghoff

Hoch gelobt, kaum gesehen: Versagt der Zuschauer?

Die Serie "Im Angesicht des Verbrechens" ist exzellentes Fernsehen ohne Quote - offenbar kann das Publikum Meisterwerke nicht von Massenware unterscheiden.

Irgendwann heute Nacht wird sich alles auflösen, dann nämlich endet die zehnteilige Fernsehserie „Im Angesicht des Verbrechens“, und die Art und Weise, wie die ARD dieses Ende zeigt, ist für viele Fernsehkritiker selbst ein Verbrechen. Wie kam es dazu?

Der Regisseur Dominik Graf und der Drehbuchautor Rolf Basedow schufen ein Krimi-Epos, das es in Deutschland noch selten gab: kompliziert, verzwickt, immer spannend, Figuren mit Brüchen, Figuren voller Schuld und Sühne, eine Handlung im absoluten Hier und Jetzt. Die Dreharbeiten selbst verliefen wie ein Krimi, die Produktionsfirma Typhoon musste Insolvenz anmelden, irgendwann war die Serie fertig, und was alle Beteiligten geschaffen hatten, kann man guten Gewissens ein Meisterwerk nennen. Uraufgeführt wurde dieses Werk dann auf der diesjährigen Berlinale – alle hauptberuflichen Kritiker waren begeistert. Arte hatte „Im Angesicht des Verbrechens“ bereits im Frühjahr im Programm, die Quote war okay, kein Desaster, aber auch kein Höhenflug.

Am 22. Oktober zeigte die ARD die ersten beiden Folgen der Serie auf dem Sendeplatz, auf dem sonst Wiederholungen vom „Tatort“ laufen. Und seitdem hat es keine einzige Folge von „Im Angesicht des Verbrechens“ geschafft, mehr Zuschauer für sich zu gewinnen als die alten „Tatort“-Filme. Besonders schlimm soll es bei der jungen Zielgruppe sein, die im Prinzip überhaupt nicht erreicht wird, obwohl sie doch erreicht werden sollte. Die Verantwortlichen bei der ARD reagierten und platzierten die zehnte und letzte Folge, die eigentlich am kommenden Freitag gezeigt werden sollte, am Freitag dieser Woche direkt hinter die Folgen acht und neun. Und damit kam es zu einem Aufschrei der Fernsehkritiker. Ihr Schrei sollte vor allem Volker Herres erreichen, den Programmdirektor der ARD. Denn Herres, so die Logik der Kritiker, knickte ein gegenüber der Quote und zeigt keinen Respekt vor der Großartigkeit der eigenen Ware.

Die letzten drei Folgen gibt es am Freitag hintereinander

Was aber tat Herres eigentlich genau? Er hat reagiert, weil die Quote bisher bei rund zwei Millionen Zuschauern liegt. Er habe Angst gehabt, die zehnte Folge könnten noch weniger sehen wollen, wenn sie ganz alleine stünde – was nicht ganz unmöglich scheint. Die „Tatort“-Wiederholungen auf demselben Sendeplatz sehen im Schnitt 3,5 Millionen Menschen. Das sind die Zahlen, und diese Zahlen sagen nichts aus über die Qualität. „Im Angesicht des Verbrechens“ ist besser als der beste „Tatort“. Die Zahlen sagen auch nichts darüber aus, ob die Öffentlich-Rechtlichen in der Lage sind, gutes Fernsehen zu machen oder nicht. Die ARD hat „Im Angesicht des Verbrechens“ gemacht, natürlich können die bei der ARD gutes Fernsehen machen. Die eigentliche Frage lautet vielmehr: Will der Fernsehzuschauer gutes Fernsehen sehen?

Ein paar schon – aber ein paar mehr wollen lieber sehen, was sie schon kennen. Nichts anderes sagen die Zahl und die Diskussion um „Im Angesicht des Verbrechens“ aus. Was hat denn die ARD gemacht? Sie gab der Serie einen guten, wenn auch nicht sehr guten Sendeplatz. (Der Freitagabend ist immer kritisch, jüngere Zuschauer gehen beispielsweise lieber aus.) Dem Zuschauer ist es egal, er wundert sich, wo Maria Furtwängler bleibt, er fragt sich, wieso Axel Prahl so komisch aussieht – und schaltet um. Oder aus. Der erste Reflex der Fernsehkritiker, die Verantwortlichen für ihre Unfähigkeit beim Programmmachen zu beschimpfen, ist komplett falsch. Wenn sie unbedingt einen Schuldigen für die Situation haben wollen, sollten sie lieber das Publikum beschimpfen, das ein Meisterwerk nicht von Dutzendware unterscheiden kann. Oder wenn es das unterscheiden kann, dann ist es ihm egal – und die Dutzendware lieber.

Es handelt sich hierbei um einen relativ normalen Vorgang: Anspruchsvolle Musik steht in den Hitparaden nicht auf den vorderen Plätzen. Blockbuster sind in den seltensten Fällen exzellente Kinofilme. Tommy Jaud verkauft mehr Bücher als J. M. Coetzee – warum also sollte dieser Mechanismus ausgerechnet im Fernsehen auf den Kopf gestellt werden?

Es gibt gutes, großartiges Fernsehen. „Im Angesicht des Verbrechens“ ist gutes, großartiges Fernsehen. Ebenso „Kir Royal“, die sechsteilige Serie von Helmut Dietl um den Münchner Klatschreporter Baby Schimmerlos. Das Problem ist nur: „Kir Royal“ war quotenmäßig auch eine Enttäuschung – aber daran scheint sich heute niemand zu erinnern. Es gibt Menschen, die lieben „Kir Royal“, so wie es Menschen gibt, die „Im Angesicht des Verbrechens“ lieben und die Serie in diesem Fernsehjahr bereits zum zweiten Mal schauen. Menschen, die in der Lage sind, Programmänderungen nachzuvollziehen oder ihren Festplattenrekorder zu programmieren.

Der Umgang der ARD mit der Serie ist kein Skandal. Die Tatsache, dass nicht zehn Millionen Menschen diese Serie schauen wollen, bedeutet nicht den Untergang des Abendlandes. Es ist nur Fernsehen. Sehr, sehr gutes Fernsehen.

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