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Nachdem er die Saalwette verloren hat, lässt sich Thomas Gottschalk in Nürnberg in einen Senftopf tauchen.

© picture-alliance/ dpa

Wie im alten Rom: Deutschland sucht seine Entertainer

Paradiesvogel und Maître de Plaisir: Thomas Gottschalk verlässt "Wetten, dass ...?". Was heißt das für die deutsche Fernsehunterhaltung?

Als am 4. Dezember 2010 ein Kandidat in der ZDF-Sendung „Wetten, dass...?“ schwer verunglückte, zog ein Hauch von römischem Zirkus durch die Landschaft der Fernsehunterhaltung. Zirkus: Das waren einst Gladiatoren, die mit Löwen um ihr Leben kämpften. Deutschlands beliebtester Maître de Plaisir, Thomas Gottschalk höchstpersönlich, verstieß gegen den Grundsatz: The show must go on. Er senkte den Kopf und den Daumen – und brach damit den Stab über sich selbst und der Neigung der Fernsehunterhaltung, bei Wettspielen zu weit zu gehen. Eine Abschiedssendung von „Wetten, dass...?“ wird er noch moderieren, das war’s. Hat die Fernsehshow neuerdings einen Hang zum Leichtsinnigen?

Man kennt die Debatte vom Sport. Und die Fernsehshow hat manches gemein mit Fußball, Rennbahn und Olympia. Nicht zufällig waren ruhmreiche Show- Matadore wie WimThoelke und Günther Jauch vorher Sportreporter. Auch in den Shows müssen die Kandidaten beweisen, dass sie besser, klüger, schneller, geschickter oder verrückter sind als ihre Konkurrenten – immer geht’s um Platz und Sieg. So hießen die alten Shows denn auch „Einer wird gewinnen“, „Der große Preis“, „Der goldene Schuss“. Und das Risiko bestand durchaus auch in körperlichem Einsatz. Im Großen und Ganzen aber blieben die klassischen Shows moderat und die Spieler gesund. Die Macher von früher wussten, dass ihr Fernsehvolk bei allem Spaß doch seine Ruhe im Fernsehsessel brauchte. An die Stelle der alten Gemütlichkeit jedoch ist irgendwann eine neue Unruhe getreten. Das hat Gottschalk sehr richtig erkannt. Man will die Risiken heute hoch und toll haben – was macht da schon ein gebrochenes Jochbein. Für diesen Trend steht Stefan Raab. Und das junge Publikum geht mit. Heißt die Richtung dann doch – Rom? Sind wir wieder so weit, dass wir Gladiatoren wollen, Hasardeure, die sich zur Unterhaltung der Ränge im Colosseum, der sensationsgeilen Millionen vor dem Flachbildschirm, in Gefahr begeben?

Wenn es so ist, dass sich die ursprünglich mal einheitliche glamouröse Live-Veranstaltung im Fernsehen aufgesplittert hat in Angebote an verschiedene Alterskohorten, dann müssten sich heute alle Elemente, die zur großen Show gehörten, in den Nachfolgesendungen wiederfinden, auch das römische Element, der Nervenkitzel durch das körperliche Risiko. Aber abgesehen von einem Unfall in Dietmar Schönherrs Sendung „Wünsch dir was“ (Start 1969), bei dem die Insassen eines Autos, das in ein Wasserbassin eingelassen worden war, kurzzeitig in Lebensgefahr gerieten (es ging gut aus), sind Katastrophen auf der Showbühne von früher nicht überliefert. Der sportive Einsatz ist ja auch nur eine Möglichkeit, in Wettbewerb zu treten. Daneben bleibt die klassische Kür des Ratens oder Besserwissens, auch die Kindergeburtstagsdisziplin des Geschicklichkeitsspiels ist relevant. Man kann sich dabei blamieren, aber nichts brechen.

Die große Show hatte in ihrer Entstehungszeit auch etwas zu tun mit dem Prestige des Mediums. Fernsehen galt als prolo. Am Samstagabend sollte das Publikum die Erfahrung machen, dass sich mächtige Sender wie ARD und ZDF die Unterhaltung etwas kosten ließen und sie mit Aufwand und Stil präsentierten. Zu dieser Imagepflege gehörten Showmaster, die außer Kompetenz eine allgemein- menschliche Autorität ausstrahlten. Inbegriff einer solchen Entertainer-Persönlichkeit war Hans-Joachim Kulenkampff, der Grandseigneur des deutschen Unterhaltungsfernsehens und legendärer Präsentator der langlebigen Quiz-Show EWG („Einer wird gewinnen“, Start 1964). Kuli war ein Herr und dennoch stets zu Anzüglichkeiten aufgelegt. Er hatte Niveau und war volksnah. Mit ihm und bei ihm fühlten sich alle gut aufgehoben. Um seine Bedeutung und die Relevanz der Unterhaltung zu betonen, überzog er die 100-Minuten-Show regelmäßig um circa eine halbe Stunde – im formatierten Programmablauf von heute wäre das ein Unding. Aber das Publikum mochte diese kleine Prise Unordnung an seinem sonst so korrekt gestriegelten Bildschirm-Kavalier.

Noch während der Ära Kuli geschahen die großen Umbrüche: Das Kommerzfernsehen (Start 1984) brachte das Zielgruppen-Fernsehen mit sich, und das Zielgruppen-Fernsehen hievte unberechenbare Individualisten auf die Bühne, die das Publikum nicht mehr einen, sondern aufmischen wollten. Kuli focht das alles nicht an, nichtsdestoweniger war seine Zeit um. Und mit ihm gingen auch diese Sterne unter: Peter Frankenfeld, der Mann vom Zirkus mit dem großkarierten Jackett, der mit „Vergissmeinnicht“ (Start 1964) und „Musik ist Trumpf“ (Start 1975) eine vielschichtige Fangemeinde unterhielt. Wer ging noch?

Richtig, Hans „Hänschen“ Rosenthal, der das „Fragespiel für Schnelldenker: Dalli Dalli“ ( Start 1971) moderierte. Nein, er moderierte nicht, sondern jagte seine Kandidaten durch die Kür, dass es nur so rauchte. Bei einer besonderen Leistung rief er im Chor mit dem Saalpublikum laut „Spitze!“ und vollführte einen Luftsprung; in der Regie drückten sie dabei auf freeze, so dass das Publikum sich sekundenlang an seinem schwerelosen Showmaster erfreuen konnte. Wie viele seiner Generation kam Rosenthal vom Radio. Er war ein Kistenteufel, er entzückte das Publikum durch Tempo und Geistesgegenwart. Ja, und dann gab es Peter Alexander. Der war Wiener und Sänger und am weitesten von dem Krawall entfernt, dem sich die TV-Unterhaltung nach seinem Rückzug verschreiben sollte. Alexanders Vorbild hieß Frank Sinatra – abzüglich von dessen Weibergeschichten. Der Österreicher war rundum seriös, dabei gut aussehend, ihm glaubte man seine schmachtende Intonation. Die Peter-Alexander-Show (Start 1963) aber hätte er mit Schmalz à la „Das machen nur die Beine von Dolores“ nicht bestreiten können. Alexander war ein Tausendsassa, er konnte genial parodieren. Wie er Vico Torriani nachmachte, kann man heute auf YouTube bewundern. Alexander und Torriani standen für eine Kultur der gepflegten Barmusik, mit Einlagen von Tanz und Persiflage, um deren Untergang es doch irgendwie schade ist.

Doch, o weh, dann kam Carrell.

Der Holländer belegt bei einem RTL- Ranking, das die besten Showmaster aller Zeiten ermittelt, den ersten Platz. Nach Günther Jauch kommt Kuli sogar noch auf Platz 3! Rudi Carrell bekannte, stets eifersüchtig auf den Bremer Bonhomme gewesen zu sein, dabei war er es, der ihn und dessen gesamte Generation entthront hat. Von heute aus gesehen war Carrell das Bindeglied zwischen den Zeremonienmeistern à la Kuli und den Spaßvögeln der Stefan-Raab-Ära. Sein Perfektionismus, seine Nähe zum Publikum und sein menschenfreundlicher Humor verbanden ihn mit den Generalisten der alten Schule, seine Sakkos, sein Akzent und sein Überbiss, dazu sein gehöriger Abstand zu allem, was mit Kuli-mäßiger Bildungshuberei zu tun hatte, empfahlen ihn der jüngeren Generation. Rudi konnte einfach nur Quatsch machen, und es war super. Seine Shows („Am laufenden Band“, Start 1974, und die „Rudi-Carrell-Show“, Start 1988) verbanden noch einmal das große Publikum quer durch alle Schichten und Altersklassen.

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In der zweiten Reihe spielten Entertainer, die in den Nischen, welche sie für sich ausgebaut hatten, zu den Ersten zählten. So trat Frank Elstner nicht nur als Präsentator, sondern auch als Erfinder von Shows hervor. „Wetten, dass...?“ (Start 1981) war sein Baby, und es geht die Rede, dass Elstner es nie verwunden habe, von Gottschalk, der ihn 1987 ablöste, in Sachen Popularität übertrumpft worden zu sein. Dieter Thomas Heck kümmerte sich derweil um den deutschen Schlager; seine „Hitparade“ (Start 1969) erreichte trotz ihres Pop-fremden Konservatismus Kultstatus.

Von Elstner und Heck gibt es eine schöne Geschichte. 1983 trat Heck als sogenannter Wett-Pate bei Elstner in „Wetten, dass...?“ an. Sein Wettkandidat verlor. Die Begleichung der Wettschuld durfte Heck selbst bestimmen. Er bot an, mit dem Fahrrad von Bexbach im Saarland nach Westberlin zu strampeln, rechtzeitig zur Eröffnung der Funkausstellung. Zwischen Saar und Funkausstellung aber lag die DDR. Da gab es die Transitstrecke, doch ohne Radweg. Wie in Stasi-Akten heute nachlesbar, haben die Parteioberen in Ostberlin sich außerordentlich schwer getan, bis sie schließlich Hecks Antrag auf Radelfreiheit ablehnten. Aber der Showmaster löste seine Schuld ein. Er fuhr mit dem Rad bis Helmstedt und von da weiter per Bus, in dem sein Rad nach Hometrainer-Art befestigt wurde ...

Showmaster in der DDR? Es gab Gunther Emmerlich, ein Conferencier und Opernsänger, der nach der Wende auch im Westfernsehen auftauchte. Es gab Hans-Georg Ponesky, der „drüben“ immer wieder „Fernsehliebling des Jahres“ wurde – dank seiner Show „Mit dem Herzen dabei“. Und es gab Heinz Quermann, der sich mit der Zensur anlegte und erreichte, dass unerwünschte Lieder, wie z.B. das Sachsenlied, in seiner Show gespielt werden konnten. Insgesamt aber litt die Fernsehunterhaltung in der DDR unter der Nötigung zur political correctness, wie die SED-Diktatur sie vorgab. So konnte sich die TV-Show nur begrenzt nach ihren eigenen Gesetzen entwickeln.

Und wie ging die Entwicklung in Gesamtdeutschland weiter? Spätestens in den 90er Jahren, als das Privatfernsehen sich etabliert und an Selbstbewusstsein hinzugewonnen hatte, änderte sich die Unterhaltungslandschaft dramatisch. Es schlug die Stunde der schrägen Vögel, der Anarchoclowns und des Quotenkampfes aller gegen alle. Der Generalist war out. Die sportlichen, frechen, verspielten Moderatoren kriegten ihre Chance, Thomas Gottschalk und Günther Jauch stiegen auf, es folgten die Traum-Schwiegersöhne Oliver Geissen, Kai Pflaume und Jörg Pilawa.

All diese Stars waren und sind sehr viel jünger im Habitus als Opas Conferenciers es sein durften, und sie verzichteten auf die Überlegenheitsgesten ihrer Vorgänger. Sie sind einer von denen da unten im Saal, nur zufällig stehen sie da oben. Wenn sie gut sind, erobern sie auch noch die Herzen der Älteren. Und sie sind gut: lässig, lustig, einfallsreich, schnoddrig, zuweilen subtil. So Jauch mit der Quizshow „Wer wird Millionär?“ (Start 1999), Geissen mit der „Ultimativen Chartshow“ (Start 2003), Pflaume mit der Show „Nur die Liebe zählt“ (Start 1993), Pilawa mit seinem Quiz (Start 2001). Doch neben, unter und über ihnen hatte Stefan Raab seine Karriere begonnen.

Raab ist der große Zampano der neuen Show-Zeit. Er featurete Knallchargen wie Guildo Horn und Elton, er weckte mit „TV total“ (Start 1999) die Late Night Show und mit „Schlag den Raab“ (Start 2006) die sportliche Spannung, das römische Element in der Show, aus dem Dornröschenschlaf. Raabs Kernkompetenzen sind Musik und Sport, er komponiert und tritt gegen Profi-Sportler, z.B. aus dem Boxsport, an. Nach einem Sturz vom Mountainbike brach er sich das Jochbein und verlor das Bewusstsein – machte nach kurzer Pause aber weiter. Das Besondere an Raab ist sein unbedingter Ehrgeiz. In den Matches, die er in „Schlag den Raab“ inszeniert, will er wirklich gewinnen. Die Message: Ich bin und bleibe einer von euch und kämpfe für euer Vergnügen. Eine sozusagen römische Einstellung.

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Wo blieben eigentlich die Frauen? Sie kamen in den frühen Shows nur als Assistentinnen vor (legendär: Uschi bei Kuli) – niemand traute ihnen jene Souveränität zu, die der große Samstagabend erforderte. Das änderte sich in den 90ern. Wo skurrile Typen wie Raab und Horn, wo Paradiesvögel wie Gottschalk Erfolg hatten, durften auch Frauen sich weiter vorwagen. Interessanterweise ließen sie die überkommenen Attribute Schönheit und Bescheidenheit, fahren und präsentierten sich wie Hella von Sinnen und Margarethe Schreinemakers gnadenlos schräg und schrill. Oder entwickelten Domina-Qualitäten wie Ulla Kock am Brink in der „Hunderttausend-Mark-Show“ (Start 1993). Auch bei ihr wurde es römisch, also körperlich und wenigstens potenziell gefährlich – eine Tendenz, die sich in Reality-Shows wie dem „Dschungelcamp“ fortsetzt.

Zum Schluss sei daran erinnert, dass unter den als ach so deutsch empfundenen Showmastern der ersten Stunde ziemlich viele einen Migrationshintergrund hatten. Lou van Burg war Holländer, so auch Carrell. Peter Alexander kam aus Österreich und Vico Torriani aus der Schweiz. Frank Elstner wurde in Linz geboren. Hans Rosenthal war Deutscher - aber auch Jude, dem es mit viel Glück und Chuzpe gelungen war, der Deportation zu entgehen. Vielleicht hat seine außerordentliche Beliebtheit einen Grund darin, dass das Fernsehpublikum so etwas wie Entlastung empfand, wenn dieser Star mit der harten Vergangenheit einen Luftsprung machte.

Die souveräne Gelassenheit trotz des Show-Trubels, für die Kuli und seine Kollegen standen, hatte etwas damit zu tun, dass die Nachkriegszeit erst langsam zu Ende ging. Man wollte Spaß haben, aber keinen Nervenkitzel à la Raab oder Kock am Brink. Den hatte man in echt erlebt und wollte ihn vergessen. Mit den Jahrzehnten verblasste die Erinnerung an die realen Katastrophen, und der körperliche Einsatz bis hin zum hohen Risiko wurde wieder sexy und salonfähig. Der junge Mann, um dessentwillen Thomas Gottschalk letztes Jahr die Sendung abbrach, wollte mit Federstelzen über fahrende Autos springen. Das mutet schon ziemlich römisch an. Deutschland durchlebt seit der Wiedervereinigung (rückblickend kann man sagen: seit 1945) eine wohltuend pazifistische Ära. Die enorme Bewunderung, ja Vergötterung, die alles Militärische traditionell genoss, ist vollkommen dahingeschwunden, man schafft ja sogar die Wehrpflicht ab. Das hat Auswirkungen auf die Sehnsüchte des Publikums, was die Unterhaltung betrifft.

Mit Thomas Gottschalk retiriert ein durch und durch ziviler Entertainer, vielleicht einer der letzten großen Nachfolger der Maîtres de plaisir aus dem Ancien Régime. Er steht für Opulenz, Glanz, Flitter und Charme, auch für Geschmack und Durchblick. Wir werden ihn vermissen. Und vielleicht ein wenig vor uns selbst erschrecken, wenn die Geister, die wir mit Raab und Co. gerufen haben, die Show ins Colosseum zurückversetzen.

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