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Kraft ohne Protz: Deutschlands neue Führungsrolle

Einst war Deutschland stark und böse, dann schwach und gut – heute ist es stark und gut. Und auch wenn das Personal nicht dazu zu passen scheint: Die Zurückhaltung der deutschen Spitzenpolitiker hat sich bewährt.

Nehmen wir als ersten Vergleich die USA. Die sind stark, aber skrupellos. Deutschland ist schwach, aber hypermoralisch. So war es lange Zeit. Amerika konnte weltweit Kriege führen, Diktatoren niederringen und Steuern in Billionenhöhe senken, aber das Klima schonen und Terroristen einen fairen Prozess machen: Das mahnte Deutschland an. Heute ist das Verhältnis anders. Die USA sind schwach, aber immer noch ziemlich skrupellos. Deutschland ist stark, aber immer noch ziemlich moralisch. Kann das gut gehen?

Denn nicht nur gegenüber Amerika haben sich die Gewichte dieses Landes verschoben, sondern auch innerhalb Europas. Unausgesprochen und trotzdem spürbar heißt das neudeutsche Grundgefühl: Wir sind wer, und wir sind gut! Beispiel Finanz- und Wirtschaftskrise: Kaum ein Land hat sie besser gemeistert als dieses. Wirtschaft brummt, Arbeitslosigkeit geht runter, Steuereinnahmen sprudeln. Es war richtig, dem amerikanischen Drängen nach weiteren Investitionspaketen nicht nachgegeben zu haben. In Washington, London, Paris oder Madrid sieht man heute mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung auf Berlin.

Beispiel Irakkrieg: Selbst neokonservative US-Hardliner – einschließlich ihrer europäischen Verbündeten in Großbritannien oder Polen – bilanzieren die Intervention inzwischen als Fehler. Aktuell kippt die Stimmung sogar beim Nato-Krieg gegen Libyen. Aus Afghanistan wollen auch alle raus. Viele Deutsche fühlen sich in ihren Vorbehalten bestätigt. Weder als Terrorbekämpfungsmittel noch als Demokratisierungsbeschleuniger hat der Krieg überzeugt.

Beispiel Atomausstieg: Mögen andere Länder weiter Milliardensummen in die riskante Energieform pumpen, wir steigen aus und setzen auf grüne Technologien. Das wird sich lohnen. Die Leitindustrie des 21. Jahrhunderts verspricht riesige Energieeffizienzgewinne. In zahlreichen grünen Branchen ist Deutschland jetzt schon Marktführer – mit einem Weltmarktanteil von 15 bis 20 Prozent.

Stark und böse – das kennt die Welt aus übler deutscher Geschichte. Schwach und gut – das kennt die Welt aus den vergangenen 40 Jahren. Aber stark und gut – an dieses neue Deutschland müssen sich viele Nachbarn und Verbündete erst noch gewöhnen. Potenz plus Zeigefinger: Das kann gewaltig nerven.

Vielleicht ist es deshalb eine glückliche Fügung des Schicksals, dass an der Spitze des Landes unprätentiöse, fast farblose Politiker stehen. Christian Wulff (Bundespräsident), Norbert Lammert (Bundestagspräsident), Hannelore Kraft (Bundesratspräsidentin) und Angela Merkel (Bundeskanzlerin) sind über jeden Verdacht erhaben, übertrieben selbstbewusst oder schulmeisterlich aufzutreten. Was aus deutscher Sicht ein Manko sein mag – Stichwort: Führungsschwäche –, entpuppt sich, global gesehen, als Vorteil. Denn eines ist gewiss: Dem Klassenprimus wird vieles verziehen, nur nicht Protzerei. Je stärker und moralischer sich Deutsche fühlen, desto zurückhaltender müssen sie auftreten.

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