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Foto: p-a/dpa

© picture-alliance/ dpa

Gastbeitrag: Kein störendes Beiwerk

Helmut Schmidt nennt die Menschenrechte eine "westliche Erfindung". Es schmerzt einen unverbesserlichen SPD-Wähler wie mich, dass keiner in der Partei ihm ausdrücklich widersprochen hat.

Nach dem Urteil der Historiker erschöpfte sich der Aufstand vom 17. Juni 1953 keineswegs in einem Massenprotest gegen Normerhöhungen und Lebensmittelpreise. Es war eine Freiheitsbewegung, die eine Vorläuferrolle für ähnliche Unruhen im Inneren des kommunistischen Blocks spielte. 1956 folgten Aufstände in Ungarn und Polen, 1968 der „Prager Frühling“, ab Sommer 1980 die Solidarnosz-Bewegung in Polen.

Obwohl all diese Aufstände – mit Ausnahme der Solidarnosz-Bewegung – mithilfe von sowjetischen Panzern niedergewalzt wurden, gelang es den kommunistischen Führern in den Satelitenstaaten nie, das Verlangen ihrer Bürger nach mehr Freiheit nachhaltig zu unterdrücken. Das Versprechen Michail Gorbatschows im Revolutionsjahr 1989, er werde keine Panzer zur Unterdrückung der Demonstrationen einsetzen, führte zum Fall der Mauer und zum Ende der kommunistischen Herrschaft in Mittel- und Osteuropa.

In diesen Tagen beobachten wir fasziniert die Demonstrationen in Istanbul und Ankara. Es handelt sich um eine Protestbewegung in einem ganz anderen – in einem islamisch geprägten Kulturkreis. Aber auch hier ist der unmittelbare Anlass – der Streit um eine Grünananlage am Taksim-Platz – nur der Auslöser für Forderungen nach mehr Demokratie und Freiheit.

Bei den Menschenrechten, hat der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt kürzlich gesagt, handele es sich um „eine westliche Erfindung“; weder im Alten noch im Neuen Testament sei von ihnen die Rede. Man solle die chinesische Regierung, in seinen Augen „die beste Regierung der Welt“, damit in Ruhe lassen. Aber sollen das Folterverbot, die Gleichberechtigung der Frau, die Meinungsfreiheit für Bürger in anderen Kulturkreisen nicht gelten, weil es sich um „westliche Erfindungen“ handelt?

Ich erlaube mir zu spekulieren, dass jedes Folteropfer auf der Erde ziemlich genau dieselben Schmerzen empfindet, gleichgültig ob es sie in der Türkei, in China oder in den USA erleidet. Auch die Glühbirne, das Internet und das Handy sind übrigens im Westen erfunden und von der ganzen Welt adaptiert worden. Es schmerzt einen unverbesserlichen SPD-Wähler wie mich, dass keiner ihrer Führer diesem Ausspruch des auch von mir verehrten Alt-Kanzlers ausdrücklich widersprochen hat – auch nicht sein Schachpartner Peer Steinbrück. Zumal sich hier eine gewisse Traditionslinie erkennen lässt. Ich denke etwa an das absurde, rituell abgespulte Gospel des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder vom „lupenreinen Demokraten Putin“. Ich erinnere mich aber auch an die bösen Worte von SPD- und Gewerkschaftsführern an die Adresse der Solidarnosz-Bewegung: Von einer „katholisch-reaktionären“ Bewegung war damals die Rede. „Wir bedauern, dass dies notwendig wurde“, sagte Bundeskanzler Helmut Schmidt zum Putsch des Generals Jaruzelski im Dezember 1981. Fast alle Dissidenten aus der DDR, die ich damals kennenlernte, fühlten sich als „Entspannungsgegner“ von der SPD ausgegrenzt. Inzwischen bestreitet niemand mehr, dass der beharrliche „unvernünftige“ Protest der Polen beim Sturz des Kommunismus in Europa eine entscheidende Rolle spielte. Am Ende ist die Diktatur nicht durch die verdienstvolle Politik der kleinen Schritte, sondern durch eine Revolution hinweggefegt worden.

Einen solchen Irrtum muss man zugeben können. Natürlich erwartet niemand, dass Politiker bei ihren Geschäften mit autoritären Regimen die Menschenrechtsagenda vor sich hertragen. Aber sie sollten sie auch nicht als störendes Beiwerk betrachten. Es hat sich erwiesen, dass die von der französischen und der amerikanischen Revolution erkämpften Menschenrechte inzwischen auch in nicht- westlichen Gesellschaften wie in der Türkei, in Russland und China begehrt werden. Zugegeben, es sind Minderheiten, die vielleicht gefährliche reaktionäre Kräfte auf den Plan rufen und, wenn überhaupt, erst in Jahrzehnten mehrheitsfähig werden. Aber auch am 17. Juni war es eine Minderheit, die rebellierte.

Der Autor ist Schriftsteller und lebt in Berlin.

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