zum Hauptinhalt

Fukushima: Japanische Behörden sind ahnungslos und desorganisiert

Ein Durchbrechen des geschmolzenen Reaktorkerns ist in Fukushima sehr unwahrscheinlich. Dass bislang nicht das Schlimmste eingetreten ist, ist allerdings hauptsächlich Glückssache. Eine Analyse.

Am Tag zwölf der Katastrophe von Fukushima werden die Zweifel am Krisenmanagement lauter. Der Kraftwerksbetreiber Tepco und die japanische Atomaufsicht Nisa veröffentlichen zwar akribische Protokolle ihrer Maßnahmen, jeder Hubschrauberflug und jede Rauchwolke werden minutengenau dokumentiert. Doch was in den Reaktorblöcken 1 bis 3 und dem Abklingbecken im zerstörten Block 4 eigentlich los ist, wovon die größte Gefahr ausgeht und warum welche Maßnahme getroffen (oder unterlassen) wurde, erklärt nach wie vor niemand.

Unter Nuklearexperten hat deshalb ein weltweites Kaffeesatzlesen eingesetzt: Lagen im Abklingbecken in Block 4 am 15. März tatsächlich die Brennstäbe trocken, wie zunächst gemeldet wurde? Warum wurde dann erst am 20. März Wasser gesprüht? Warum ist es bis heute nicht gelungen, den angeblich für die Überhitzung verantwortlichen Stromausfall der Kühlpumpen mit mobilen Generatoren zu überbrücken? Was hat es mit den grauen und weißen Wolken über dem Kraftwerk auf sich? Wie hoch ist die Strahlung auf dem Gelände, welche radioaktiven Stoffe wurden freigesetzt?

Offensichtlich waren auch die japanischen Behörden ahnungslos, sonst wären sie wohl nicht davon überrascht worden, dass in der Nähe des Super-GAU angebauter Spinat radioaktiv belastet ist – erst vorgestern wurde der Verkauf von Milch und Salat aus der Region Fukushima verboten. Schwer verständlich auch, warum die Wasserwerfer der Tokioter Feuerwehr erst am 19. März zum Einsatz kamen, als die Reaktoren schon länger als eine Woche vor sich hin glühten. Ebenso unerklärlich ist, dass das endlich verlegte Stromkabel zu schwach dimensioniert ist, um die Kühlwasserpumpen der Reaktoren anzutreiben. Die letzte Temperaturmessung aus dem besonders gefährdeten Abklingbecken in Block 4 stammt vom 14. März, seitdem sind die Temperaturfühler ausgefallen. Ferngesteuerte Roboter, die Bilder und Messdaten aus dem verstrahlten Gebäude liefern können, kommen erst diese Woche aus Frankreich.

Dass trotz alldem bislang nicht das Schlimmste eingetreten ist (und voraussichtlich auch nicht mehr eintreten wird), war hauptsächlich Glückssache. In Tschernobyl explodierte 1986 der Atomreaktor unter voller Leistung, beim bislang zweitschwersten Super-GAU 1979 in Harrisburg löste erst die Überhitzung des Reaktors die Schnellabschaltung aus. In Fukushima dagegen fuhren die drei aktiven Reaktoren bereits durch das Erdbeben am 11. März automatisch herunter, seitdem findet keine Kernspaltung mehr statt. Erst Stunden bis Tage später fielen nach und nach die Kühlpumpen aus.

Die in den Reaktoren durch den radioaktiven Zerfall produzierte Nachwärme, die unmittelbar nach der Abschaltung bei 7 Prozent der Vollleistung liegt, fällt bereits nach fünf Stunden auf 0,9 Prozent ab, derzeit liegt sie noch bei 0,4 Prozent. Erst nach langer Zeit ohne Kühlung würde das Uranoxid in den Brennstäben ab 2400 Grad Celsius zu schmelzen beginnen. Und dann würde die Schutzhülle des Reaktors noch Tage bis Wochen standhalten. Ein Durchbrechen des geschmolzenen Reaktorkerns, wie es derzeit als Gefahr beschworen wird, ist in Fukushima sehr unwahrscheinlich.

Tepco darf allerdings keine Fehler mehr machen. Wenn die Stromversorgung wieder hergestellt und die Kühlpumpen angeworfen werden, wird es noch einmal spannend. Weil Wasser Neutronen bremst und sie so reaktionsfähiger macht, kann das Kühlwasser in einem überhitzten Reaktor die Kernspaltung wieder in Gang setzen. Um diese gefürchtete „Re-Kritikalität“ zu verhindern, wird das Wasser mit Borsäure versetzt, die Neutronen abfängt. Unter den in Fukushima gegebenen Bedingungen hat das noch niemand ausprobiert.

Leider steht zu befürchten, dass Atombefürworter die Mängel in Fukushima für ihre Zwecke nutzen werden. Auch nach Harrisburg und Tschernobyl hieß es: Lektion gelernt, wir machen es besser. Am Montag erklärte die Atomaufsicht der USA bereits, der japanische GAU habe keine unmittelbaren Konsequenzen für die US-Reaktoren. Am selben Tag wurde die Laufzeit des Vermont-Yankee-Kraftwerks um 20 Jahre verlängert – der uralte Reaktor ist praktisch ein Zwilling von Fukushima Block 1.

Der Autor ist Mikrobiologe und Direktor des Instituts für Biologische Sicherheitsforschung in Halle.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false