zum Hauptinhalt
Der Präsident hört mit. Angela Merkel und Barack Obama beim Besuch des amerikanischen Staatsoberhaupts in Berlin Mitte Juni, kurz nach den ersten Enthüllungen über die Spähprogramme des US-Geheimdienstes NSA.

© dpa

Merkels Handy abgehört?: "So geht es gar nicht!" - ändert Merkel nun ihre US-Politik?

Nach vier Monaten NSA-Skandal hat sich politisch nichts verändert. Keine der Enthüllungen hat dazu geführt, dass irgendwo der politische Wille zur Veränderung erkennbar wurde. Die Mutmaßungen über ein Abhören des Kanzlerinnen-Handys könnten eine neue Dynamik entfesseln.

Von Anna Sauerbrey

"Unmissverständlich missbilligt" hat die Kanzlerin das mutmaßliche Ausspähen ihres Handys durch den US-Geheimdienst NSA. "Inakzeptabel" sei das, hat sie dem amerikanischen Präsidenten am Mittwoch am Telefon mitgeteilt. "So geht es gar nicht", ergänzte ihr Verteidigungsminister am Donnerstagvormittag in der ARD. Diplomatische Kraftausdrücke sind das, und man kann der Regierung nur zustimmen. So geht es tatsächlich gar nicht. Allerdings hat die Kanzlerin viereinhalb Monate und ein sattes Maß an allerpersönlichster Betroffenheit gebraucht, um zu einer angemessenen politischen Reaktion zu gelangen und endlich zum Telefonhörer zu greifen. Auch das bleibt inakzeptabel. Auch das geht gar nicht.

Tatsächlich war das EU-Parlament die erste politische Institution in Europa, die am Mittwoch, nur wenige Stunden bevor Regierungssprecher Steffen Seibert über ein mutmaßliches Ausspähen des Kanzlerinnen-Handys berichtete, halbwegs konkret auf die Enthüllungsgeschichten der vergangenen Monate reagierte. Die Abgeordneten haben eine Resolution beschlossen, in der sie fordern, das Abkommen der EU mit den USA über die Weitergabe von Bankverbindungsdaten, das sogenannte Swift-Abkommen, auszusetzen. Damit reagierte das Parlament auf Berichte des brasilianischen TV-Senders Globo, der sich auf Dokumente aus dem Fundus von Edward Snowden beruft. Trotz des Abkommens, das den USA unter bestimmten Bedingungen ohnehin Zugriff auf die Daten zu Zwecken der Terrorabwehr gewährt, soll sich die NSA in die Server des privaten Dienstleisters Swift eingehackt haben.

Bislang schickte Merkel den Innenminister und die Justizministerin vor

Aus Deutschland hingegen kam bislang ziemlich genau: Null Komma Nichts. Nach den ersten Enthüllungen im Juni verschickten das Innen- und das Justizressort Fragenkataloge, die unbeantwortet blieben. Im Juli reiste Innenminister Hans-Peter Friedrich in die USA, um sich aufklären zu lassen, kam allerdings mit leeren Händen zurück. Peer Steinbrück forderte im Wahlkampf einmal, die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA so lange aussetzen, bis Letztere die Dimension ihrer Spionage in Europa aufgeklärt hätten – das hat die SPD inzwischen vergessen. Im August erklärte Ronald Pofalla, sozusagen ex cathedra, die Affäre für beendet, und tatsächlich spielte das Thema im weiteren Wahlkampf kaum eine Rolle, geschweige denn in den Sondierungen.

Weder die EU noch die USA zogen politische Konsequenzen aus dem NSA-Skandal

Aber auch international passierte wenig. Auf europäischer Ebene hätte die Möglichkeit bestanden, die neue Datenschutzverordnung um schützende Paragraphen zu ergänzen. Dazu kam es nicht - die Paragraphen, die europäische Bürger gegenüber US-Konzernen stärken werden, standen schon vorher im Text. Bestehende Datenschutzabkommen zwischen den USA und der EU wie das "Safe-Harbor-Abkommen" wurden nicht angefasst. In den USA ist die einzige konkrete Konsequenz aus dem Skandal, dass die NSA demnächst einen „Beauftragen für den Datenschutz und die Bürgerrechte“ bekommt.

War da was?

Ja, da war was, auch bevor man darüber mutmaßen durfte, ob das Kanzlerinnen-Handy angezapft wurde. Fassen wir grob zusammen, was seit Juni aus dem offenbar unerschöpflichen Dokumentenfundus des Edward Snowden berichtet wurde und bemerkenswerterweise zu großen Teilen von den Verantwortlichen nie dementiert wurde: Der amerikanische Geheimdienst sammelt die Telefon- und Internetdaten von Millionen amerikanischen und ausländischen Bürgern, angefangen mit Telefonverbindungsdaten bis hin zu Adressbüchern und Kontaktlisten. Das geschieht nicht verdachtsabhängig, sondern flächendeckend. Große Internetkonzerne wie Google und Facebook gewähren den Geheimdiensten Zugang zu ihren Servern. Verschlüsselungen werden gehackt oder von den Herstellern von vornherein mit einer „Hintertür“ für die Dienste ausgeliefert. Der britische Geheimdienst saugt den Datenverkehr aus den Unterseekabeln direkt ab. Die Kontrolle dieser Programme durch Parlamente und Gerichte ist minimal. Und selbst, wenn man den Schutz der Bürger vor Überwachung für zweitrangig hält: Auch das Abhören von diplomatischen Vertretungen der EU und der UN-Zentrale in New York ist bekannt. Zuletzt meldete "Le Monde", die NSA habe das Netz des französischen Außenministeriums gehackt.

Obama erklärte die Spähpraxis für nützlich, Merkel stellte sich doof

Das alles wissen wir. Und das alles wissen wir nicht. Der NSA-Skandal hat gezeigt, wie weit die Kluft zwischen Information und Bewusstsein sein kann. Die europäische und amerikanische Öffentlichkeit sind so gut über die Machenschaften ihrer Geheimdienste informiert wie nie – ein Konsens über die Bedeutung dieser Informationen hat sich bislang nicht etabliert. Diese Unschlüssigkeit über die Bedeutung dessen, was wir wissen, ist auch Resultat jener effektiven Beschwichtigungspolitik, die die Kanzlerin nun zum ersten Mal durchbrochen hat. Die Obama-Regierung ging in die Offensive: alles normal, alles notwendig, alles legal. Und Merkel stellte sich bekanntlich doof: Ach, ja, das "Neuland" Internet. Mit dem Ding kann man Handys abhören? So blieb die Affäre stecken, irgendwo zwischen fantastischem Schrecken und Fantasterei.

Auf dem EU-Gipfel könnte sich eine neue Dynamik entwickeln

Sollten sich die Nachrichten über das Abhören des Kanzlerinnen-Handys bewahrheiten, könnte sich eine neue Dynamik entwickeln. Mexiko hat zuletzt in scharfen Tönen die Bespitzelung hoher Regierungsbeamter durch die NSA kritisiert. Auch Frankreich wird um eine Reaktion angesichts der jüngsten Enthüllungen nicht herum kommen. Auf dem heute beginnenden EU-Gipfel haben die europäischen Partner Gelegenheit, sich jener Alchemie zu widmen, mit der man politischen Unmut in politischen Willen verwandelt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false