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Debatte um Thierse: Muss man am 1. Mai gegen Neonazis protestieren?

Die Teilnahme von Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse an einer Straßenblockade am 1. Mai stößt weiterhin auf ein geteiltes Echo. Ein Pro und Contra.

PRO

Er wird schwer gescholten für seine Form des Protests, der Bundestagsvizepräsident. Man hält ihm vor, dass er sich als Repräsentant eines Staatsorgans nicht gegen ein anderes Staatsorgan stellen dürfe, auch wenn er, Wolfgang Thierse, in diesem Fall nur gesessen hat. Billig sei es zudem gewesen, nichts riskiert und nur auf die Aufmerksamkeit der anwesenden Kamerateams geschielt zu haben. Was hätte ihm denn passieren können? Zivilcourage sei das jedenfalls nicht.

Gandhi hat mehr gewagt, gewiss. Trotzdem läuft da jetzt einiges durcheinander. Seit wann darf sich ein Abgeordneter des Bundestages nicht mehr an Sitzblockaden beteiligen? In Mutlangen, Gorleben oder Hanau durfte er das noch. Und so zu tun, als habe sich ein Mitglied der Legislative auf jeden Fall loyal gegenüber der Exekutive zu verhalten, zeigt ein höchst bedenkliches Staatsverständnis, das die Errungenschaft der Gewaltenteilung ohne jede Not ignoriert.

Thierse hat von einer Form des zivilen Ungehorsams Gebrauch gemacht, die aus unserem fein ausbalancierten System konkurrierender Machtzentren nicht wegzudenken ist. Dafür dürfte er, den man in Berliner Strafkammern ohnehin für „verhaltensauffällig“ hält, die Quittung vor Gericht präsentiert bekommen. Leider legt man passiven Widerstand hierzulande etwas kleinlich als Tätlichkeit aus. Aber disqualifiziert das die Aktion als solche?

Neonazi-Aufmärsche durch Sitzblockaden oder die schiere Überzahl tausender Gegendemonstranten zu verhindern, ist zu einem beliebten Volkssport geworden. In der Ablehnung der „nationalen“ Rechten sind sich alle bürgerlichen Lager einig – sogar einig mit der radikalen Linken, die einen Gutteil ihrer Selbstlegitimation aus der Antifa- Emphase bezieht. Trotzdem bleibt der Protest problematisch. Die freie Meinungsäußerung ist ein so hohes demokratisches Gut, dass man sich nicht zu viel darauf einbilden sollte, es als Mehrheit Neonazis vorenthalten zu können.

Es ist aber allemal besser, die Auseinandersetzung mit Neonazis auf der Straße zu führen als in den Amtsstuben des Verfassungsschutzes und den Gerichten. Wie schwer die sich nämlich damit tun, neofaschistische Parteien wie die NPD zu verbieten, zeigt deutlich, wo die Grenzen einer demokratischen Rechtsprechung liegen.

Die Bürger müssen sich damit nicht abfinden. Ihr Protest ist vielmehr ein Mittel zur Pflege des demokratischen Klimas. Im Fall der Wunsiedel-Aufmärsche fühlte sich der Gesetzgeber selbst zu einer Ausnahme genötigt und brachte ein Sondergesetz durch, das massiv in die Rechte der Rechten eingriff. Um das jährliche „Gedenken an Rudolf Heß“ zu unterbinden, war man sogar bereit, ein Instrument zu schaffen, das auch andere Neonazi-Versammlungen verbieten könnte. Auch wenn es selten zur Anwendung gelangt, deckt sich das Ansinnen der Blockierer mit dem Grundgesetz als einem ausdrücklichen „Gegenentwurf“ zur Terrorherrschaft des Nationalsozialismus.

Es mag lästig für Polizisten sein, ehrwürdige Herrschaften mit Abgeordnetenstatus vom Asphalt zu heben. Dennoch stellt das ganze Hinhalten, Beharren, Sitzenbleiben die wichtige Frage nach dem Erlaubten jenseits des Zugelassenen.

Thierse darf nur eines nicht: Er darf sich nicht beschweren. Kai Müller

CONTRA

Nie war der Widerstand gegen Hitler so groß wie heute. Damit das auch jeder mitkriegt, wird stets von Nazis gesprochen, gegen die man sich wehren muss, nicht von Neonazis oder Rechtsradikalen. Wer sich im Jahre 2010 in Dresden oder Berlin auf die Straße setzt, sitzt in der Tradition des 20. Juli, der kämpft gegen echte Nazis. Wolfgang Thierse ist ein bärtiger Stauffenberg, das ist die irre Selbstwahrnehmung, der sich durch seine Sitzblockade einer Neonazidemonstration gegen irgendwelche Anfänge wehrt.

Vor einigen Jahren war der deutsche Widerstand noch geprägt von der Angst vor der „New York Times“ und dem, was sie berichten könnte: Es ging um das Bild Deutschlands in der Welt, und der „Kampf gegen Rechts“ war Bürgerpflicht. Besonders souverän war dieses Handeln mit dem verschämten Blick auf das Urteil der anderen noch nie. Inzwischen, da sich die Welt zunehmend weniger mit Hitler beschäftigt, muss die finanziell, personell und ideologisch bankrotte NPD von der Antifa längst durch Mund-zu-Mund-Beatmung am Leben gehalten werden. Denn zum Paartanz auf der deutschen Vergangenheit braucht man schließlich zwei: Am 1. Mai, dem Pas de deux der Totalitären, tritt das als bekanntes Ritual zu Tage. Da brauchen sich beide Seiten, dafür stärken sich beide Seiten, und bei genauem Hinsehen sehen beide Seiten sich erstaunlich ähnlich. Doch diesem Schauspiel sowohl eine historische Folie als auch eine politische Legitimation zu liefern, bedeutetet, den Beteiligten den größtmöglichen Gefallen zu tun: So leicht sollte man in Deutschland jedoch weder zum Nazi noch zum Demokraten werden dürfen.

In die Welt, sollte die sich überhaupt noch dafür interessieren, verbreitet sich nun ein neues Bild: von einem Land, das negativ abhängig ist von seiner nationalsozialistischen Vergangenheit, und das deshalb die Geschichte immer wieder als populistisches Kammerspiel durchspielt. Doch diesmal sind wir die Guten – mit dem inglourius basterd vom Kollwitzplatz an der Spitze dieses vermeintlich antifaschistischen Widerstands.

Kein schönes Bild, denn ein notwendiger Teil dieser Inszenierung ist die Einschränkung der Meinungsfreiheit. Das Demonstrationsrecht ist dafür geschaffen, dass sich Minderheiten, was auch immer sie sagen wollen, in der Öffentlichkeit äußern können. Wenn Wolfgang Thierse solche Ansichten verbieten will, dann kann er das tun: im deutschen Parlament, dessen Mitglied er ist, und das seit Jahren immer wieder an einem NPD-Verbot scheitert. Thierse hat seit Jahren politische Macht; sich auf die Straße zu setzen, als bleibe selbst ihm, dem Vizepräsidenten des Bundestages, nichts anderes mehr übrig, kommt der Bankrotterklärung eines langen Politikerlebens gleich.

Souverän ist ohnehin etwas anderes: Solche Meinungen, die eine überwältigend große Mehrheit dieses Landes ablehnt und von denen keine Gefahr für die Demokratie dieses Landes ausgehen, auszuhalten. Wer einer angemeldeten Demonstration mit Lärm begegnet, macht sie lauter. Protest ist, wenn es um etwas geht, dringend geboten, und steht jedem frei. Die Meinungsfreiheit zu beschneiden, und dazu gehört eben das Einschränken des Demonstrationsrechts durch Blockaden, weil man jemandes Meinung nicht teilt, war noch nie eine gute Idee – auch das lehrt die deutsche Vergangenheit: Es schafft Meinungsopfer und beschädigt ein Grundelement der Demokratie. Moritz Schuller

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