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Plakativ. Wolfgang Vonnemann (links) von der Bürgerinitiative und Alban Becker (re.) vom Kleingartenverein werben für den Bürgerentscheid.

© Cay Dobberke

Wohnungen gegen Laubenpieper: In Berlin will niemand für billiges Wohnen Opfer bringen

Charlottenburg-Wilmersdorf stimmt am Sonntag über die Zukunft der Kolonie Oeynhausen ab. Der Streit ist symptomatisch für den Konflikt zwischen Einzel- und Gesamtinteressen in Berlin, meint Bernd Matthies. Gerade bei Bauflächen müssen aber Gesamtinteressen stärker zählen.

Der Wähler ist nicht fair zu seinen Politikern. Er wählt sie alle paar Jahre, um seine Interessen zu vertreten, aber er gibt ihnen unlösbare Aufgaben mit auf den Weg. „Erhaltet alles städtische Grün!“, ruft er ihnen zu, „und baut viele schöne Wohnungen, die sich jeder leisten kann!“ Wie soll das gehen? Es geht natürlich überhaupt nicht, und gegenwärtig ist es in Berlin vor allem die SPD, die von diesem Großthema zerrissen wird.

Es betrifft aktuell den Flughafen Tempelhof und seine Bebauung, aber es betrifft auch den Bürgerentscheid über die Schmargendorfer Kolonie Oeynhausen – und in der Zukunft vermutlich noch viele andere Kleingartenanlagen und Freiflächen. Der Senat, insbesondere in Gestalt von Stadtentwicklungssenator Michael Müller (SPD), hat dabei das Gemeinwohl gegen Partikularinteressen zu schützen. Ein fairer Kampf ist das nicht. Denn während ein Angriff auf jede noch so wacklige Platane sofort den Protest beliebig vieler Anwohner provoziert, gibt es niemanden, der sich öffentlich und ebenso wutbürgerisch für den Neubau von Wohnungen einsetzen würde.

Gerade der innerstädtische Kleingarten verkörpert das Partikularinteresse

Alle wollen billig wohnen, aber niemand akzeptiert, dass dafür Opfer zu bringen sind: ein Stück vom Tempelhofer Feld, eine halbe Kleingartenkolonie, alles schöne, liebgewordene Dinge. Dabei verkörpert gerade der innerstädtische Kleingarten das Partikularinteresse modellhaft. Wer einen hat, der besitzt für kleines Geld ein Häuschen mit Garten inmitten einer der begehrtesten Städte der Welt, aber er hat keinerlei Verpflichtungen außer jenen, die sich aus der Satzung der Kolonie ergeben. Er darf zweimal im Monat zum Rasenmähen kommen oder aber – klammheimlich – auch tagtäglich in der Laube wohnen und seine Wohnung untervermieten.

Bedrohte Idylle. Wie lange ein Teil der Pächter in der Kolonie Oeynhausen noch die Blumenpracht genießen kann, ist fraglich. Ein Investor plant dort Wohnungen.
Bedrohte Idylle. Wie lange ein Teil der Pächter in der Kolonie Oeynhausen noch die Blumenpracht genießen kann, ist fraglich. Ein Investor plant dort Wohnungen.

© Thilo Rückeis

Das alles ist zweifellos beneidenswert, kein Wunder, dass die Wartelisten lang sind und niemand von seiner Scholle vertrieben werden möchte. Und wer schaut sich nicht gern Blümchen an? Doch das ändert nichts am Anachronismus. Der Schrebergarten in der Stadt war ein Ausgleich für die von Industrie und Hausbrand verpesteten, engen Wohnquartiere, und er diente der Selbstversorgung in knappen Zeiten. Vorbei, Geschichte. Zwar gibt es angestrengte Versuche, die Kolonien noch heute zur „grünen Lunge“ der Stadt hochzustilisieren, doch das wirkt gerade im Fall Oeynhausen, zwei Kilometer Luftlinie vom Grunewald entfernt, einigermaßen lächerlich.

Wohnungen vermitteln mehr Bürgern Zugang zu Grün in der Stadt

Und die gern kategorisch plakatierte Frage „Grün oder Beton?“ führt erst recht in die Irre, weil jedes einigermaßen sorgfältig geplante Wohnbauprojekt mehr Bürgern Zugang zum Grün vermittelt als die typische Kleingartenanlage, die von ihren Besitzern gern als geschlossene Einheit inszeniert wird, mit Parzellen, die außer dem Pächter selbstverständlich niemand betreten darf. Das Standardargument lautet: „Aber es gibt doch so viel andere Flächen!“, und wenn es richtig wäre, dann gäbe es in der Tat keinen Grund, ausgerechnet Laubenkolonien in Berlin zu schleifen. Doch es ist eben nicht richtig.

Zweifellos ist es leicht, mit dem heutigen Wissen zu fragen, ob man zum Beispiel die verfallenen Berliner Güterbahnhöfe nicht auch ein paar Jahrzehnte früher für den Wohnungsbau hätte erschließen können. Es ließe sich auch fragen, ob es unbedingt nötig ist, kostbares innerstädtisches Bauland mit gigantischen Heimwerkermärkten vollzustellen, und ob das Angebot an Einkaufszentren nicht eventuell doch langsam ein auskömmliches Maß erreicht hat. Doch diese Fragen führen letzten Endes immer wieder an Grenzen, die Privateigentum, rechtsstaatliche Verfahrensabläufe und prognostische Probleme unweigerlich setzen. Und das Ergebnis der Abwägung ist eben, dass der Staat nicht einfach dort Wohnungen bauen lassen kann, wo der Widerstand zufällig am geringsten ist, sondern dass alle einigermaßen baureifen Flächen auch bebaut werden müssen.

Sonst nehmen die akuten Probleme auf dem Wohnungsmarkt überhand, und wir bekommen genau die Londoner Probleme, die die Protestierer am allerwenigsten wollen. Offenbar haben die Politiker im Oeynhausen-Verfahren Fehler gemacht, genau wie die Laubenpieper, die das Gelände selbst hätten kaufen können. Doch der Vorwurf an die Adresse der Politik, sie nehme Partei für die Investoren, zeigt die ganze Absurdität der Diskussion: Was denn sonst? Wenn jene, die Wohnungen bauen wollen, nicht einmal die Unterstützung der Politik haben, dann können wir uns vom Wohnungsbau auch gleich ganz verabschieden. Der Bürgerentscheid in Wilmersdorf mag am Sonntag ausgehen, wie er will: Für die politische Entscheidung kann er nicht maßgeblich sein.

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