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Der Saal 101 des Münchener Justizgebäudes.

© dpa

Duell am 72. Verhandlungstag im NSU-Prozess: 300 Euro für eine AOK-Karte für Beate Zschäpe

Der 72. Verhandlungstag entwickelte sich zu einem Duell zwischen Richter Götzl und einem selbstgefälligen Zeugen. Von dem ehemaligen Nazi sah sich der Richter offenbar provoziert. Der Zeuge beschrieb, wie Beate Zschäpe an eine Gesundheitskarte kam - im Untergrund ein wichtiges Utensil.

Von Frank Jansen

Der Mann könnte in einem obskuren Kriminalfilm mitspielen: Er kommt mit schwarzem Hut, schwarzem Schal und schwarzem Sakko, am Hals und an der rechten Hand lugen Tätowierungen hervor. Passend zum Outfit gibt sich Alexander S. im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München cool und selbstgefällig. Er stellt sich als „Kaufmann im Groß- und Außenhandel“ vor und sagt Sätze wie, „ich glaube, dass wir in einer Welt mit globalen Problemen leben“ und „ich hab’ grad’ keinen Namen auf der Zunge“. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl macht am Mittwoch den Eindruck, als nerve ihn der Zeuge und Ex-Nazi, der nach eigenen Aussagen im Jahr 2004 die Szene verlassen haben soll.

Die Beweisaufnahme entwickelt sich zu einem Duell mit dem 33-jährigen Hannoveraner, der Erinnerungen dosiert preisgibt, wie es ihm passt. Auch wenn seine Aussage kein allzu großes Gewicht im NSU-Komplex haben dürfte, liefert Alexander S. doch Stoff für eine Art Charakterstudie. Renitent und jahrelang rechtsextrem, aber kein dumpfer Typ, sondern einigermaßen schlau und schlagfertig. Er belastet seinen angeklagten Kumpan Holger G., der laut eigenem Geständnis den NSU unterstützt hat, auch nicht über bekannte Fakten hinaus. Aber er stellt ihn als einen haltlosen Mann bloß, der zuviel Drogen nahm.

300 Euro für eine Versichertenkarte für Beate Zschäpe

2006 habe Holger G. bei einem „feucht-fröhlichen Abend“ gefragt, „ob meine Frau ihre Versichertenkarte verkaufen würde“, erzählt der Zeuge. Holger G. bot 300 Euro, der Deal kam offenbar rasch zustande. Silvia S. hat im Prozess auch schon im November zugegeben, die Karte weitergereicht zu haben. Wofür Holger G. die Karte haben wollte, wusste Silvia S. angeblich nicht  – ihr Mann Alexander will auch keine Ahnung gehabt haben.

Zu Beginn des Prozesses hatte Holger G. zugegeben, 2006 die Karte auf Bitte von Beate Zschäpe besorgt zu haben. Die Hauptangeklagte, damals bereits acht Jahre lang mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt untergetaucht, brauchte einen Versichertennachweis, um zum Arzt gehen zu können. Wegen Beschwerden im Unterleib, im Prozess war allerdings auch schon von Zahnschmerzen die Rede.

War Holger G. überhaupt zurechnungsfähig?

So wie Alexander S. den feucht-fröhlichen Abend schildert, zwingt sich allerdings die Frage auf, ob Holger G. überhaupt zurechnungsfähig war.  Der Freund habe „vorwiegend Amphetamine konsumiert“, sagt der Zeuge, „das waren schon recht hohe Mengen“. Am Ende des Abends „war er sehr durch den Wind“. Richter Götzl will es genauer wissen. Holger G. sei „sehr redefreudig gewesen“, sagt Alexander S. und spricht von „Ausfallerscheinungen“ und „hohem Bewegungsdrang, zum Beispiel permanentes Wackeln mit den Beinen“.

Die Antworten kommen allerdings zäh. Und noch langsamer, als Richter Götzl nach der politischen Einstellung des Zeugen und von Holger G. fragt. Alexander S. äußert knapp, „wir hatten damals eine nationalsozialistische Einstellung“. Mit damals ist ein Zeitraum bis etwa 2004 gemeint. Götzl will wissen, was die nationalsozialistische Einstellung bedeutete. In dozierendem Duktus sagt Alexander S., „konkret war man daran interessiert, die Gesellschaft dahingehend zu verändern, dass sie sich zu einer nationalsozialistischen entwickelt“. Götzl ärgert sich, aber er gibt nicht auf.

Zeuge soll sich 2004 von rechtsextremer Szene gelöst haben

Der Zeuge gibt schließlich zu, in Niedersachsen Mitglied einer Neonazi-Kameradschaft gewesen und zu Aufmärschen gefahren zu sein. Als ein Motiv nennt er das Gefühl, gegen Ungerechtigkeiten angehen zu müssen. Als Beispiel nennt er den Umgang der Öffentlichkeit mit Rudolf Heß, Hitlers Stellvertreter in der NSDAP, der 1941 nach Großbritannien flog und 1987 im Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau starb. Heß, bis zum Tod Nationalsozialist, wird in der rechten Szene als Märtyrer verehrt. „Die Darstellung als Kriegsverbrecher“, sagt Alexander S., habe ihn „gestört“.

Doch ab 2004 will sich der Zeuge von der rechten Szene gelöst haben. Warum, wird nicht ganz klar. Jedenfalls gingen Alexander S. und Holger G. dann lieber zu Partys mit elektronischer Musik. „Die Feierei ging los“, sagt der Zeuge, „es wurden viele Drogen konsumiert, das passte nicht mehr zu den vorherigen Einstellungen“. Und es habe dann im Bekanntenkreis Ausländer gegeben, außerdem habe er „mit Juden zusammengearbeitet“.

Alexander S. hat weiterhin Kontakt zu Holger G., auch wenn der Angeklagte wegen seiner geständigen Äußerungen, schon im Ermittlungsverfahren, in ein Zeugenschutzprogramm kam und vom Bundeskriminalamt an geheimen Orten untergebracht wird. Holger G. habe ihm vor drei Monaten in einer Eisdiele versichert, er habe von den Morden des NSU und den weiteren Verbrechen nichts gewusst. Bei dem Treffen sei aber nicht über den Verkauf der AOK-Karte gesprochen worden. Ob das stimmt, bleibt offen. Alexander S. war immerhin so schlau, sich vor seiner ersten Vernehmung durch die Polizei bei einem Verteidiger von Holger G.  zu erkundigen, „ob der Straftatbestand der Beihilfe zum Sozialversicherungsbetrug verjährt ist“

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