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Bundeskanzlerin Angela Merkel am 24. Februar 2016.

© REUTERS//Fabrizio Bensch

Angela Merkel und die Flüchtlingskrise: Die Kanzlerin der Vielen

Angela Merkel entspricht dem Denken und Fühlen der Mehrheit. Deshalb will die, dass das so bleibt. Ein Essay.

Wer weiß schon, was in ihrem Kopf herumgeht. Vielleicht Beate Baumann, ihre Büroleiterin, oder Eva Christiansen, ihre persönliche Kommunikatorin. Aber nicht einmal das ist ganz sicher. Denn Angela Merkel, die Bundeskanzlerin, ist keine, die ihr Inneres, gar Innerstes, gern nach außen stülpen würde. Oder die auf die Idee käme, der Öffentlichkeit andauernd oder auch nur häufiger mit Persönlichem zu kommen. Von wegen „geh ins Offene“, wie ihr Michael Schindhelm, der Kulturschaffende und Bekannte aus Physikertagen, vor Jahrzehnten mal riet. Auch nicht in bedrängter Lage nutzt Merkel das Mittel, Nähe zuzulassen, um ein Miteinander zu schaffen. Sie bleibt auf Distanz. Man kann auch sagen: auf sicherer Distanz. Denn Vorsicht ist eine ihrer Eigenschaften. Und Nähe ist immer auch gefährlich, macht angreifbar, mehr noch: verletzbar. Gerade jetzt, in diesen Tagen, in denen die Flüchtlingsfrage Europas Schicksal entscheiden könnte. Ihres dann auch.

Selbst bei der Linken finden etliche Merkel annehmbar

Aber hat sie nicht auch recht? Hat nicht jeder von uns diese Erfahrung mit Nähe und Distanz gemacht? Darin liegt ein Teil ihres scheinbaren Geheimnisses: Merkel teilt diese Erfahrungen, viele Erfahrungen, mit der Mehrheit. Scheinbar deshalb, weil es bei näherem Hinsehen nicht so geheimnisvoll ist. Diese Kanzlerin ist, mehr als jeder ihrer Vorgänger, gelebte repräsentative Demokratie im übertragenen Sinn, ist repräsentativ für die Einstellung des weit überwiegenden Teils der Gesellschaft. Der sie behalten will: Mehr als zwei Drittel der Bundesbürger wollen, dass sie Regierungschefin bleibt, 88 Prozent der Unionsanhänger, trotz allem; mehr als die Hälfte der Grünen-Anhänger; und sie ist noch dazu bei der SPD um Längen beliebter als deren Vorsitzender und Vizekanzler Sigmar Gabriel. Selbst bei der Linken finden etliche Merkel annehmbar. Sagen wir so: Eine politische Gesamtkonfiguration sucht sich eine ideelle Gesamtfigur – und die heißt Angela Merkel. Seit mehr als zehn Jahren.

Vorsicht, ja mitunter Misstrauen, Veränderungsskepsis, alles das hat sich im Laufe der Jahre gesellschaftlich ausgeprägt, und es scheint mitunter, als habe dieser Prozess zeitgleich in der Bundeskanzlerin stattgefunden. Die Merkel der frühen Jahre, die eines Parteitags in Leipzig vor Jahrzehnten, als sie noch in der Opposition die CDU buchstäblich anführte und (laut) dachte, als Angie Thatcher oder Maggie Merkel mit grundstürzenden Reformen voranzukommen – also die gibt es womöglich noch. Aber wenn, dann ihr gemäß im Verborgenen, gut Gehüteten. Denn zugleich hat sie sich doch seither stets vor einer Politik der Zumutungen gehütet. Das Warum ist leicht erklärt: Merkel ist nach diesem Leipzig als sozial hartherzig geradezu verfolgt worden, musste sich vieler Angriffe auch aus den eigenen Reihen erwehren, und hat dann zu den eigenen Verletzungen noch die gesehen, die die Agenda 2010 ihres Amtsvorgängers hinterlassen hat, in der Gesellschaft wie in dessen Partei.

Ungeduld ist aller Niederlage Anfang

Beide zu verlieren, Partei und Gesellschaft, ist sie aber nicht angetreten. Einmal in diesem Amt, will Merkel es ausfüllen. Das tut sie mit ihrer Art, einer Art, die den allermeisten entspricht. Sie finden sich wieder in einer Strategie der Risikoverminderung, wenn nicht -vermeidung. Das verhindert Verletzungen gleich welcher Art, politischer wie persönlicher. Was sie unterscheidet von den meisten, ist der nach außen getragene Stoizismus, mit dem sie alles um sich herum auszuhalten scheint. Wellen von kleinen Aufgeregtheiten und von großen Ereignissen mögen auf sie zurollen, Merkel hält stand, bleibt ruhig, unbewegt bis unbeweglich. Daraus resultiert Bewunderung.

Übersetzt vielleicht so: Diese Frau kann etwas, das viele nicht können. Und weil sich vieles im Zuge des Abwartens und Wartens erledigt, bleibt nur das Wichtige übrig, mit dem sich die Bundeskanzlerin dann wiederum alles abwägend befasst. In ihrem Tempo, was situationsbedingt auch heißen kann, dass sie auf diesem Weg in ihrer Art weiteres Tempo aus dem Ganzen herausnimmt. Und was aus Sicht mancher eine Schwäche ist, mangelnde Geschwindigkeit, wird so umgekehrt zu ihrer Stärke: Indem sie das Tempo bestimmt, bestimmt vor allem sie das Ergebnis. Ungeduld ist aller Niederlage Anfang.

Auch das hat Merkel an ihren Gegnern wie an ihren Vorgängern studieren können. Was bei Helmut Kohl, ihrem Förderer aus den Anfangsjahren in Bonn, als Aussitzen geschmäht wurde, hat die Nach-Nachfolgerin gewissermaßen systematisiert. Was bei ihm, Kohl, unsympathisch wirkte, entschlussarm bis hin zur Unfähigkeit, wirkt bei ihr besonnen und klug austarierend. Merkel wird inzwischen nur zu gern geglaubt, dass sie als Naturwissenschaftlerin die Politik anders betreibt, sie nüchtern und eher wie ein Phänomen neugierig betrachtet. Diese Lesart hat sich so weit eingebürgert, dass eine Politik des Machismo, des Basta wie noch bei Gerhard Schröder überholt ist. So war ja dessen Außenwirkung: nie zögernd, immer fordernd. (Was am Rande nie ganz stimmte, aber dazu gerann am Ende das Bild, das er von sich zeichnen ließ.) Auf einen Begriff, auf ihren Begriff gebracht: Er war forsch – sie ist die Forscherin. Und zwar insofern, als sie immer wieder, bis jetzt in die Gegenwart hinein, die Fliehkräfte testet: Was kann sie noch aushalten, wie viel noch die Gesellschaft? Weil das im Laufe ihrer Jahre als Kanzlerin im Ausmaß überraschend kongruent geworden ist, gibt eben das Merkel erstens ein gewisses Maß an Sicherheit, zweitens immer wieder politischen Spielraum. Denn sie hat, anders ausgedrückt, Kredit bei den Bürgern.
Das gilt bis heute. Aber gilt inzwischen nicht auch, dass die Kanzlerin davon zu zehren beginnt? Keine Frage ist, dass Merkel Kredit benötigt und dass es in diesen hektischen Tagen wirkt, als fange sie an, ihren aufzubrauchen. Mehr noch, als wende sich die bundesdeutsche Bevölkerung dann doch von ihr ab. Das sind diese Tage, in denen manche schon mutmaßen, ganz Europa drifte und gerate in einen Zustand der Anarchie. Aber auch wenn das der öffentliche Befund ist – so ganz stimmt er dann auch wieder nicht. So einfach ist es schlicht nicht.

Wollen wir nicht alle gut sein, das Humanitäre fördern?

Das Band zwischen den Deutschen und ihrer Kanzlerin besteht weiter. Die beschriebenen Fliehkräfte zerren an ihr, aber sie zerreißen das Band nicht. Einerseits wollen die Bundesbürger – und darin sind sie sich geradezu identitätsstiftend einig mit der Mehrheit der Europäer innerhalb der EU –, dass die Zahl der Flüchtlinge sinkt. Sie soll sogar dramatisch sinken. Hierzulande grassiert die Befürchtung, dass selbst die wohlhabende Bundesrepublik die Anforderungen an die Kraft zur Integration in keiner Hinsicht erfüllen kann. Schon gar nicht in gesamtgesellschaftlicher, aber auch nicht bezogen nur auf den Arbeitsmarkt.
Andererseits sagen eben die, die skeptisch auf die Flüchtlingsfrage deuten, in ihrer Mehrheit, dass Merkel als Kanzlerin sie lösen soll. Und kann. Ist das eine unlogische Situation? Ja – und nein, beides in einem. Besser: in einer. Es ist eine Binnenspannung an allen Enden des Verhältnisses. So sieht es aus: Die Kanzlerin hat sich nach Leipzig zum ersten Mal wieder angreifbar gemacht. Das aber nicht etwa wieder durch kühlen Rationalismus, durch radikalen Reformismus, sondern durch eine überraschend situative, intuitive Entscheidung. Merkel hat sich, auch darin authentisch, nach den Bildern von toten Flüchtlingen, eingepfercht in einem Lastwagen, entschieden, die Grenzen zu öffnen. Das war, das ist zutiefst human, christlich-sozial. Und Merkel hat sicher – wie die Mehrheit derer, die den Anlass im Fernsehen oder auf YouTube verfolgt haben – bis heute das Flüchtlingsmädchen vor Augen, das bei einer ihrer kühlen, rationalen Antworten zur administrativen Notwendigkeit von Abschiebungen in Tränen ausbrach. Das beides, die toten Flüchtlinge und die Tränen des Kindes, nicht wiedererleben zu wollen, spiegelt sich in ihrer Haltung wider.
Eine Haltung wiederum, in der sich die allermeisten im Land wiederfinden können. Und darüber hinaus. Wollen wir nicht alle gut sein, das Humanitäre fördern? Deshalb hat Merkels Entschluss – der weltweit das Bild von den Deutschen mehr verändert hat als das Gelingen einer friedlichen Wiedervereinigung – auch so viele nicht nur angerührt, sondern zu überwältigender Zustimmung geführt. Jetzt, mit dem Wunsch der drastischen Verringerung der Flüchtlingszahlen, der zu einem Zielkonflikt führt, ist es wieder wer, dem eher als jedem anderem zugetraut wird, die richtige Antwort zu finden? Merkel. Dieser in Teilen nicht auf der Ratio beruhenden Hoffnung kommt sie durch einen berechnet und berechnend wirkenden Stoizismus entgegen: Ich mache das jetzt so, wir schaffen das schon.

Und das ist die dahinterstehende Hoffnung: dass Merkel vielleicht doch weiß, was sie tut. Genauer als wir alle. Weil sie es doch bisher anscheinend immer gewusst hat. Weil sie später gegen viele Annahmen Recht bekommen hat. Weil sie ja auch durchaus einen inhaltlichen Kern hat und ihre Dominanz nicht nur in der Beliebigkeit liegt. Weil sie zugleich immer flexibel genug war, unhaltbare Positionen aufzugeben. Beispiele für beides gibt es: Merkels Verhältnis zu Israel, zu den transatlantischen Beziehungen, zu den Russland-Sanktionen – sie bleibt dabei. Da ist sie prinzipiell, wie es scheint. Bei der Wehrpflicht oder der Atomkraft, beides auch grundlegende Fragen für den bundesrepublikanischen Staat und sein Wohlergehen, hat sehr schnell eine neue Sicht aufs Faktische ihr Verhalten normiert. Da ist sie flexibel.

Flexibel ist sie auf alle Fälle. Hinzu kommt allerdings – nicht zu vergessen –, dass die Bundeskanzlerin in allen vorher genannten Fällen die Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung vertrat. Was heute ausweislich der vielen Befragungen die Hoffnung in Teilen der Bevölkerung stützt, sie werde wieder so flexibel sein, dass man sich mit ihr im Gleichklang fühlen kann. Im Gleichklang von Gefühl und Ratio. Seinen äußeren Ausdruck findet das bei Merkel, wenn sie dieser Tage, so unter Druck, öffentlich redet. Es sind dann ausholende Gesten des Abwägens, Auswiegens, sodass man ihr beim Nachdenken zuschauen kann. Das ist auffällig und erinnert vielleicht nicht zufällig immer wieder einmal daran, dass sie von der Ausbildung her Physikerin ist. Politisch hat die Kanzlerin es damit auf ihre Weise geschafft, dass der Gedanke ihrer Abwesenheit beim Abwägen mehr Furcht als Freude hervorruft. Wie sie über die große Lage denkt und was ihre Schlussfolgerung ist, ab wann sie den Fliehkräften nicht mehr gewachsen sein könnte? Wer weiß das schon. Merkel sagt es nicht, darüber öffentlich zu räsonieren ist nicht ihre Art, und die um sie herum sagen oder wissen es nicht. Aber was sich mitteilt, ihr und den Bundesbürgern, ist, dass sie jetzt funktionieren soll, wie sie immer funktioniert hat: als Sachwalterin des Mehrheitsinteresses. (Das hat sie, aber nur nebenbei gesagt, lange wie eine präsidentielle Figur erscheinen lassen.) Als diese Sachwalterin soll sie flexibel auf die Anforderungen eben der Mehrheit reagieren. Jetzt, beim Flüchtlingsthema. Sie soll die Gute sein – und die Vernünftige. Sie soll die Widersprüche, die bestehen, auflösen. Sie soll dem Bild von ihr entsprechen: dem der Dienstleisterin. Wenn sie das schafft, dann ist es gut. Für sie. Für die Mehrheit.

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