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Kanzlerinnendemokratie. Nach der Wahl sitzt Angela Merkel allein auf der Regierungsbank, ein einsamer Moment zum Genießen. Die Kabinettsmitglieder durften erst dazu, nachdem sie ernannt und vereidigt worden waren.

© Reuters

Angela Merkel zum dritten Mal Bundeskanzlerin: Reichlich Raum für folgenlosen Unmut

Angela Merkel ist wieder Kanzlerin, zum dritten Mal. 462 Abgeordnete stimmten für sie - 42 weniger, als die große Koalition Abgeordnete hat. Merkel können die paar Abweichler egal sein. Doch Ex-Juso-Chef Niels Annen sieht bereits „die Diskussion um die Merkel-Nachfolge begonnen“.

Von
  • Hans Monath
  • Robert Birnbaum

Die kleine alte Dame kommt spät in den Saal, aber sie muss sich ja keine Sorgen machen, ihr Sitz in der ersten Reihe ist reserviert. Herlind Kasner ist jetzt jedes Mal dabei gewesen, wenn ihre Tochter zur Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland gewählt wurde. Also trippelt sie kurz vor neun am Morgen die flachen Stufen der Ehrentribüne im Reichstag hinab, rechts sacht gestützt von Angela Merkels Büroleiterin Beate Baumann, links von Merkels Stabschefin Eva Christiansen. Herr Sauer, um das gleich abzuhandeln, ist natürlich wieder nicht da.

Beim ersten Mal war Merkel ein bisschen enttäuscht, dass ihr Mann den Vorsatz derart weit trieb, sich öffentlich rar zu machen. Aber beim dritten Mal wird selbst das vermutlich zur Routine. Außerdem, so eine Kanzlerwahl ist zwar wichtig, aber spannend ist sie selten, und diesmal erst recht nicht.

„Ich begrüße Sie zu unserer vierten Sitzung“, sagt Bundestagspräsident Norbert Lammert geschäftsmäßig um Punkt neun Uhr. Claudia Roth hastet mit wehendem rotem Schal zu ihrem Platz. Die Grünen sind förmlich eingeklemmt zwischen dem riesigen schwarzen und dem roten Block. Als der Präsident den Tagesordnungspunkt eins aufruft – der Bundespräsident schlägt dem Bundestag die Wahl der Abgeordneten Dr. Merkel zur Bundeskanzlerin vor –, brandet breiter Applaus durch den Saal, vom gesamten schwarzen bis ins vorletzte Drittel des roten Blocks. „Der demonstrative Beifall ersetzt die Wahl nicht“, merkt Lammert an. Also beginnt der Akt, auf den die gesamte Bundespolitik der vergangenen Monate ausgerichtet war, vom Wahlkampf übers Sondieren und Verhandeln bis zum Abstimmen. Alle 631 Mitglieder des Hauses werden namentlich aufgerufen, jeder steckt seine Stimmkarte in die Wahlurnen vorne vor dem Präsidentenpult. Das dauert. Im Saal setzt munteres Treiben ein.

Das parlamentarische Papparazzitum greift um sich

Die neue Kulturstaatsministerin Monika Grütters bespricht mit Wolfgang Schäuble ersichtlich Ernsthaftes, also vermutlich irgendwas mit Geld. Merkel schlendert in ihrem schwarzen Zweireiher von diesem – Sigmar Gabriel – zu jenem – Horst Seehofer; bald plaudert eine kleine Koalitionsrunde vor der Bundesratsbank. Später landet Merkel bei Christina Schröder, die ein enges grünes Kleid mit blauen Punkten trägt und darunter einen kleinen Babybauch. Die Ex-Familienministerin wird zum zweiten Mal Mutter. Sie kriegt von der niedersächsischen CDU-Abgeordneten Gitta Connemann das Smartphone in die Hand gedrückt und muss ein Foto schießen: Ich mit der Kanzlerin, kurz bevor sie’s wieder wird! Das parlamentarische Papparazzitum greift rasch um sich. Nach dem vierten Foto sucht Merkel das Weite. Aber das Erinnerungsfoto gehört einfach zu diesem Tag, der zwischen Staatsakt und Society-Ereignis schwankt.

Der gesellschaftliche Glamour hält sich freilich in Grenzen. Selbst das Haus Springer, sonst von der Chefin vertreten, ist diesmal nur in Gestalt eines langbärtigen Taliban anwesend, der sich bei näherer Betrachtung als „Bild“-Chef Kai Diekmann erweist. Auf der Ehrentribüne sticht Manuela Schwesigs krawallrotes Kostüm ins Auge. Die Mecklenburgerin hat kein Mandat und darf erst nach unten, wenn sie Ministerin geworden ist, genauso der Saarländer Heiko Maas.

Einer darf vermutlich nie mehr ins Plenum: Guido Westerwelle

Einer darf vermutlich nie mehr ins Plenum. Guido Westerwelle wird in wenigen Stunden das Auswärtige Amt seinem Nachfolger Frank-Walter Steinmeier übergeben. Für den Freidemokraten findet ein Lebenstraum hier sein Ende. Er ist trotzdem gekommen, als einziger der noch amtierenden FDP-Minister.

Ja, und dann ist da noch die Märchenbank: Vater von der Leyen und die sieben Zwerge! Die Familie ist komplett dabei, als die Mutter zur Verteidigungsministerin ernannt wird. Wie die Perlen aufgereiht nach Alter sitzen sie da, eine ganze Bankreihe voll. Später kommen sie im Gänsemarsch vom Mittagessen aus dem Bundestagsrestaurant. Das Bild räumt jedweden Zweifel aus, ob die Frau eine Armee kommandieren kann.

Um kurz nach zehn schlängeln sich zwei Bedienstete in den Plenarsaal, je einen Blumenstrauß dezent hinter dem Rücken verborgen. Kurz darauf sitzt auch Lammert wieder an seinem Platz. Die Wahl ist ausgezählt. „Mit Ja gestimmt haben 462“, liest der Präsident vor. Es ist 10:14 Uhr. Angela Merkels dritte Kanzlerschaft beginnt. Volker Kauder reicht ihr den schwarz-rot-gelben Blumenstrauß, da hat sie noch gar nicht formgerecht zugesagt: „Ich nehme die Wahl an.“ Sigmar Gabriel überreicht das rote Bukett, ihm folgt eine lange Reihe Gratulanten.

Wer sind die 42 Verweigerer?

Ronald Pofalla ist einer der letzten. Für ihn endet die Zeit im Zentrum der Macht. Merkel nimmt den engen Wegbegleiter über die Bank weg in den Arm. 462 Stimmen, das sind 42 weniger, als die große Koalition Abgeordnete hat. Wer’s war? Die Wahl ist geheim. Das hintere Drittel der SPD-Bänke muss noch lernen, für Merkel zu klatschen, aber das heißt nichts.

„Ich habe mit Ja gestimmt, weil ich vertragstreu bin“, sagt einer der Handfaulen. Selbst in der Union glauben sie, dass mindestens ein Drittel der Verweigerer aus ihren eigenen Reihen stammt. Man muss vermutlich Juso-Chef gewesen sein wie Niels Annen, um daraus zu folgern, dass „die Diskussion um die Merkel-Nachfolge begonnen“ habe. Ein erfahrener Parlamentarier hat eine viel einfachere Erklärung: Das werde öfter passieren, einfach weil es möglich sei.

Volker Kauder hat neulich in der Unionsfraktion angemerkt, dass die Regierung noch eine Mehrheit hätte, wenn drei Hundertschaften aus CDU, CSU und SPD sich verweigern würden. Für die Fraktionsdisziplin ist so ein Satz des Chefs ein bisschen riskant. Aber er stimmt. In dieser großen Koalition ist reichlich Raum für folgenlosen Unmut. Merkel können die paar Abweichler vollends egal sein; bei ihrer ersten Wahl 2005 waren es ja sogar noch mehr, und 92 Prozent sind allemal genug.

Ein Ausflug ins Schloss Bellevue, eine Urkunde und ein Händedruck des Bundespräsidenten, zurück im Bundestag der Amtseid, wie ihn die Väter und Mütter des Grundgesetzes vor einem halben Jahrhundert formuliert haben: Das Wohl des Volkes mehren, Schaden von ihm wenden, Gerechtigkeit üben gegen jedermann, so wahr ihnen Gott helfe. Die altmodischen Formeln der Verfassung lassen zum ersten Mal etwas Pathos durch den Saal wehen.

Merkel setzt sich auf ihren Platz in der Regierungsbank. Die neuen Minister werden erst später folgen, wenn sie ernannt und vereidigt sind. Sigmar Gabriel wird sehr feierlich aussehen dabei, fast gerührt. Vizekanzler – er hat hart gearbeitet dafür. Aber jetzt, für den kurzen Moment nach dem Eid, sitzt die Kanzlerin allein. Irgendwie, sagt das rituelle Bild, kommt es schon auf sie an.

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