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Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Christian Lindner über Berlin: „Henkel und Heilmann haben völlig versagt“

Vor der Abgeordnetenhauswahl kritisiert der FDP-Chef die Berliner CDU, schlägt eine Alternative zum Türkei-Deal vor und erklärt, warum die AfD "Deutschland zerstört".

In Berlin steht am 18. September eine Bewährungsprobe an. Laut Umfragen ist unklar, ob Ihre Partei ins Abgeordnetenhaus gewählt wird – trotz der Unzufriedenheit mit den regierenden Parteien. Woran hakt es, dass die FDP nicht stärker profitiert?

Die FDP hat bei den letzten fünf Wahlen hinzugewonnen. Übrigens meist deutlich mehr als Umfragen uns vorher zugetraut haben. Die FDP spricht in Berlin Themen an, die auf den Nägeln brennen. Als einzige Partei sind wir für das Offenhalten des Flughafens Tegel. Zweitens: Wir sind gegen die Verschwendung von Lebenszeit beim Warten in Bürgerämtern und in Verkehrsstaus. Bürokratie und mangelhafte Infrastruktur sorgen dafür, dass Menschen ihre Zeit nicht für das berufliche Fortkommen oder einfach nur die Lebensfreude nutzen können. Das wollen wir ändern.

Wieso setzen Sie so auf das Thema Tegel?

Es geht bei Tegel nicht um einen alten Flughafen, sondern einen Baustein moderner Infrastruktur. Sollte der Flughafen BER noch zu meinen Lebzeiten eröffnen, ist er schon zu klein. Und für Fluggäste im innerdeutschen Verkehr und Geschäftsreisende liegt er sehr ungünstig. Wenn also BER gleich nach der Eröffnung erweitert werden müsste, stellt sich doch die Frage, ob man die bestehenden Kapazitäten nicht sinnvoller Weise weiterhin nutzt. Es ist auch eine Symbolfrage: Klammert sich Berlin an den gescheiterten Plan A, oder arbeitet man an einem funktionierenden Plan B?

Tegel und die Ämter, reicht das denn?

Natürlich thematisieren wir auch das völlige Versagen von Innensenator Henkel und Justizsenator Heilmann.

Worin zeigt sich das?

In Berlin wird toleriert, dass sich Bürger nicht mehr in bestimmte Stadtteile trauen können.

No-go-Areas sind uns bisher nicht so aufgefallen.

Mir sagen Menschen, dass sie Angst haben, zum Beispiel durch bestimmte Bahnunterführungen zu gehen. Wenn der Staat den Schutz von Leib und Leben und des Eigentums nicht mehr garantieren kann, dann ist das ein Versagen der Verantwortlichen. Der Staat muss handlungsfähig sein und sein Gewaltmonopol behaupten. In jedem Winkel dieser Stadt müssen sich die Bürger darauf verlassen können, dass Recht und Ordnung und die Freiheiten unseres Grundgesetzes gelten.

Hören wir richtig: Die FDP, die neue Law-and-Order-Partei?

Schon Hans-Dietrich Genscher hat als Bundesinnenminister vor 40 Jahren das Bundeskriminalamt zur damals modernsten Polizeibehörde der Welt gemacht und die GSG 9 gegründet. Unser Ansatz ist auch heute: Der Staat muss in der Lage sein, den Schutz des einzelnen Bürgers und die öffentliche Ordnung zu garantieren.

Also mehr Wächterstaat?

Wir lehnen einen Nanny-Staat ab, der sich überall einmischt, der seine Bürger überwachen und abhören will. Oder der das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient zerstört, weil er die ärztliche Schweigepflicht aufweichen will. Das ist genau der Staat, den wir nicht wollen. Wir wollen den liberalen Rechtsstaat, der schützt und wehrhaft ist. Mit einer Polizei, die geachtet und gut ausgestattet ist. Und einer Justiz, die ihrer Aufgabe der Strafverfolgung überall und immer nachkommt. Beides gerät wegen der Politik von Herrn Henkel und Herrn Heilmann in Berlin unter die Räder.

Welche Punkte aus dem jetzt bekanntgewordenen Forderungskatalog der Unions-Innenminister könnten sie denn unterschreiben?

Die Aufstockung der Polizei – diese Forderung unterstütze ich. Auch hier in Berlin ist das dringend notwendig. Es gibt zu wenig Personal, um die kriminelle Szene in allen Ecken auszuleuchten. Ich habe nicht den Eindruck, dass sich die Berliner in den Händen von Herrn Henkel sicher fühlen. Was den Unions-Ministern aber völlig fehlt, ist ein Blick über den Tellerrand, eine europäische Komponente. Wir brauchen dringend ein europäisches Terrorabwehrzentrum, das die Arbeit der nationalen Sicherheitsbehörden koordiniert. Dazu sollte mehr Koordinierung im Kampf gegen grenzüberschreitende Schwerkriminalität und die organisierte Kriminalität kommen, worunter auch die Einbruchsbanden fallen. Und das sage ich, gerade weil die FDP ein Europa ohne Grenzen möchte.

Was sagen Sie denn zu der Forderung nach einem Burka-Verbot?

Das ist reine Symbolpolitik. Ich muss überlegen, wann mir jemals eine Burka-Trägerin überhaupt begegnet ist. Ich halte das nicht für ein Praxisproblem.

Die Bundeskanzlerin hat doch eine eher fortschrittliche Flüchtlingspolitik gemacht?

Sie hat eine gesinnungsethische Flüchtlingspolitik gemacht, in der die edlen Motive wichtiger waren als die tatsächlichen Möglichkeiten und die sozialen Folgen verdrängt worden sind. Ein Verantwortungsethiker wie zum Beispiel Helmut Schmidt hätte sich gefragt: Ich habe ein edles Motiv, aber kann ich die Folgen auch verantworten?

Aber hat Angela Merkel nicht gerade verantwortungsethisch gehandelt, indem sie die europäischen Zusammenhänge der Flüchtlingskrise gesehen und danach gehandelt hat – und das edle Motiv wurde als Begründung nachgeschoben?

Diese Sichtweise teile ich überhaupt nicht. Erstens hat sie, ohne Abstimmung mit den europäischen Partnern, das Dublin-Abkommen außer Kraft gesetzt und damit den Eindruck einer grenzenlosen Aufnahmebereitschaft erweckt. Zweitens halte ich Merkels Auffassung für falsch, in Zeiten der Globalisierung könne man Grenzen nicht mehr so schützen wie früher. Beides läuft auf eine Kapitulation unseres Rechtsstaats hinaus. Drittens sind wir durch die Politik der Kanzlerin in der Flüchtlingsfrage in eine unverantwortliche Abhängigkeit von der Türkei und ihrem Präsidenten Erdogan geraten.

Was schlägt die FDP vor?

Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz, in dem klar zwischen Zuwanderern und Flüchtlingen unterschieden wird. Zuwanderer müssen bestimmte Anforderungen erfüllen, Flüchtlinge bleiben in aller Regel nicht auf Dauer – das muss im Gesetz deutlich werden. Zweitens müssen wir wieder die Kontrolle über die EU-Außengrenzen zurückgewinnen. Und drittens müssen wir uns von der Türkei lösen. Das heißt nicht, dass wir jetzt von unserer Seite aus die Flüchtlingsvereinbarung mit der Türkei kündigen müssen, aber Europa braucht einen Plan B, um nicht durch Herrn Erdogan erpressbar zu sein. Ich war entsetzt, als die CDU in dieser Woche gesagt hat, es gebe keinen solchen Plan B. Auch hier wird also wieder Alternativlosigkeit behauptet – aber wer aufhört, in Alternativen zu denken, handelt fahrlässig und verantwortungslos.

Was gehört zu einem Plan B?

Vor allem, die EU-Grenzschutzagentur Frontex deutlich zu verstärken, sie aufzuwerten zu einer EU-Grenzpolizei mit hoheitlichen Befugnissen und erheblich mehr Personal.

Grenzschutz in der griechischen Inselwelt ist natürlich ein Problem…

Vielleicht müssen wir uns deshalb mit dem Gedanken anfreunden, eine Art „Schengen 2.0“ aufzulegen, also einen Raum offener Grenzen ohne Griechenland. Andererseits ist moderner Grenzschutz etwas anderes als das Aufziehen von Zäunen, er ist nicht mehr stationär, es geht hier vor allem um elektronische Überwachung und mobile Einsatzkräfte. Seenotrettung ist natürlich weiterhin humanitäres Gebot.

Wenn stärker zwischen Flüchtlingen und Einwanderern unterschieden werden soll, sind dann die aktuellen Integrationsbemühungen sinnvoll?

Notwendig und sinnvoll sind in jedem Fall Qualifikation, Spracherwerb, ärztliche Versorgung und Traumaarbeit. Darüber hinaus sollten Flüchtlinge durch ein Einwanderungsgesetz die Perspektive haben, sich für einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland bewerben zu können. Gerne sogar.

Die Ablehnung der Flüchtlingspolitik Angela Merkels ist in der FDP-Anhängerschaft laut Umfragen höher als bei anderen Parteien, ausgenommen die AfD. Fürchten Sie nicht Verwechslungsgefahr?

Die FDP ist der klarste Kontrast zur AfD. Die Zahl der Rechtsextremen, die FDP wählen, liegt laut einer Studie bei null Prozent. Die AfD denkt völkisch, antiliberal, kollektivistisch – wir sind Individualisten. Die AfD denkt in Kategorien der Abschottung, der Flucht in den Nationalstaat. Wir denken europäisch und global. So stehen wir als einzige Partei nach wie vor für den Freihandel mit den USA und Kanada. Für uns ist Deutschland prinzipiell offen für alle Religionen, alle Ethnien, alle Geschlechter – das ist der fundamentale Unterschied zur AfD. Deshalb kann jemand, der die AfD gut findet, nicht FDP wählen, ohne in einen Widerspruch mit sich selbst zu geraten. Und umgekehrt. Die AfD macht nichts anderes, als Deutschland zu zerstören. Alles was unser Land ausmacht, will diese Partei zerstören. Sie ist rassistisch und antisemitisch. Da ist jeder Liberale aufgefordert zu widersprechen.

Aber am Islam reiben Sie sich auch. Zum Beispiel sagten Sie kürzlich, man könne von Muslimen erwarten, ihren Glauben soweit zu modernisieren, dass er auch mit dem Grundgesetz übereinstimmt.

Für mich als Liberalen gibt es neben der Religionsfreiheit auch universelle Menschenrechte. Die Würde des Menschen steht über allem. Verstößt eine Religionsausübung gegen diese Menschenrechte, zum Beispiel gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau, dann kann ich das nicht rechtfertigen mit dem Toleranzgebot des Grundgesetzes. Ich sehe mich da im Einklang mit progressiven deutschen Muslimen, die genau diese Modernisierung fordern. Ich unterstellte nicht pauschal allen Muslimen, dass sie prinzipiell von der Minderwertigkeit der Frau ausgehen. Im Gegenteil: Die große Mehrheit der Muslime in Deutschland ist zum Glück aufgeklärt. Ich will gerade sie darin stärken, die Modernisierung ihres Glaubens voranzutreiben.

Themenwechsel: Die Mittelständler der Union haben dieser Tage ein Steuerkonzept vorgelegt, das stark den Vorstellungen ähnelt, die man mit der FDP verbindet. Was halten Sie von der neuen Konkurrenz?

Ich fand das erstaunlich. Denn die Helden vom Wirtschaftsflügel der Union haben uns in der gemeinsamen Regierungszeit zwischen 2009 und 2013 am langen Arm verhungern lassen, als wir uns für Steuererleichterungen in der Mitte oder für ein transparenteres Steuerrecht stark gemacht haben. Und in der Koalition mit der SPD tragen sie jede Entscheidung mit, durch die die Sozialabgaben und Belastungen steigen. Sie haben dem Mindestlohn zugestimmt, obwohl der bedeutet, dass Mindestlohnbezieher höhere Sozialabgaben zahlen, was ihr Einkommen wieder schmälert. Das ist eine zynische Politik. Die steuerpolitischen Vorschläge finden sich auch nicht in den Finanzplanungen von Herrn Schäuble. Es scheint selbst in der Union keiner davon auszugehen, dass man diese ehrgeizlosen Pläne umsetzt – wie ja bei nach den letzten vier Wahlen nicht, wo die Union zuvor Steuersenkungen versprochen hatte.

Ist die FDP nicht mehr für Steuerentlastungen?

Doch, dafür stehen wir weiterhin. Das Aufstiegsversprechen der sozialen Marktwirtschaft wird gebrochen, wenn eine junge Familie mit zwei berufstätigen Partnern nicht in der Lage ist, Eigentum zu erwerben – weil Steuern und Sozialabgaben mit mehr als 40 Prozent zu Buche schlagen und die kalte Progression einen wachsenden Teil der Gehaltserhöhungen frisst. Die Grunderwerbsteuer ist eine zusätzliche Belastung. Unser Spitzenkandidat Sebastian Czaja hat in den Berliner Wahlkampf die Idee eingebracht, dass es Freibeträge bei der Grunderwerbsteuer geben soll, damit gerade Jüngeren und weniger Betuchten der Schritt von der Miete zum Eigentum erleichtert wird. Das halte ich für absolut richtig. Warum sollten Leute mit relativ kleinem Einkommen drei komplette Bruttogehälter an den Fiskus überweisen, wenn sie erstmals Wohneigentum erwerben? Das erschließt sich mir nicht.

Der Wirtschaftsflügel der Union und der Bundesfinanzminister scheinen die FDP als künftige Partnerin abzuhaken und zielen wohl darauf, Ihre Anhänger zur Union zu ziehen.

Es mag schon sein, dass vor allem Herr Schäuble unbequeme und prinzipienfeste Kritiker im Parlament nicht sehr schätzt. Mit Grünen und Linkspartei als Opposition, einer konturlosen Union und einer orientierungslosen SPD kann er leichter regieren als mit einer FDP, die aus ihren Fehlern gelernt hat. Es war vor allem falsch, 2009 nicht das Finanzministerium zu übernehmen. Aber die FDP wäre künftig kein bequemerer Partner. Das Versprechen kann ich nicht machen.

Schäuble ist der Herr der schwarzen Null, er nimmt für sich in Anspruch, für solide Haushaltspolitik zu stehen, er ist in Umfragen sehr beliebt. Ein Bild, das Sie teilen?

Nein, ganz und gar nicht. Schäuble trifft viele Fehlentscheidungen, die ihm allerdings nicht persönlich angerechnet werden. Es ist falsch, den Euro-Stabilitätspakt aufzuweichen, es ist falsch, am Solidaritätszuschlag festzuhalten, die Bankenunion in Europa ist falsch, weil damit die Einstandspflicht jedes einzelnen Staates für seinen Bankensektor aufgelöst wird. Das alles hat Schäuble mitverantwortet. Auch das dritte Hilfspaket für Griechenland war ein Fehler. Schäubles Popularität ist zum Teil das Ergebnis des Versagens der parlamentarischen Opposition im Bundestag. Und auch des Wirtschaftsflügels der Union. Haben die denn gerade bei der milden Behandlung der Defizitsünder Spanien und Portugal vernehmbar protestiert? Nein. Das waren nur Bundesbankpräsident Weidmann, ein paar Professoren und wir. Ein weiterer Grund, weshalb die FDP wieder im Bundestag vertreten sein sollte.

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