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Vor der Wahl: Was ist NRW?

Ein Land der Superlative. Und der Unterschiede. Allein schon zwischen Rheinland und Westfalen. Sie alle haben bald die Wahl.

WIE WICHTIG IST DAS BUNDESLAND?

Ach du je, wo anfangen. Vielleicht damit:

Bei rund 18 Millionen Einwohnern und etwa 13 Millionen Wahlberechtigten ist die Landtagswahl, im Mai, eine kleine Bundestagswahl. Was heißt, sie ist ein herausragend wichtiger Test für die Landesregierung – und die Bundesregierung. Oder anders: Nordrhein-Westfalen ist das deutsche Flächenland mit der höchsten Bevölkerungsdichte, 527 Einwohner pro Quadratkilometer; eine Dichte, die allerdings regional stark schwankt. Am höchsten ist sie – wo wohl? Richtig, im Ruhrgebiet. Das ist die am dichtesten besiedelte Region in Europa! Und dort am höchsten ist sie in Herne. Da sind es 3262 Einwohner je Quadratkilometer. Im Kreis Höxter ist die Besiedelung dagegen ganz dünn: 126 Einwohner.

Und weil es gerade wieder aktuell wird, noch ein Superlativ: Mehr als ein Drittel der schätzungsweise 3,5 Millionen Muslime in Deutschland lebt in Nordrhein-Westfalen.

NRW hat die leistungsfähigste Wirtschaft aller Bundesländer, trotz aller Schwierigkeiten stellt es den größten Anteil am Bruttoinlandsprodukt, im Jahr 2008 21,7 Prozent. NRW ist auch das exportstärkste Bundesland, mit 18 Prozent der deutschen Ausfuhren 2008. Alle reden vom Mittelstand, in NRW sitzt er: Das Land ist stark von ihm geprägt, es gibt rund 747 000 kleine und mittlere Betriebe. Andererseits sind 23 der 50 umsatzstärksten deutschen Unternehmen in NRW ansässig: Eon, Telekom, RWE, Bayer, Thyssen-Krupp, Ford, Henkel, Degussa …

Die Metallbranche, die Autobranche, Nahrungs- und Genussmittel, die chemische Industrie, Maschinenbau, das alles kennt man ja; dies war zuletzt jahrelang der Konjunkturmotor. Dazu kommen jetzt immer mehr Logistikfirmen, die Kommunikations- und Informationstechnik, Biotech, die Medien. Medienunternehmen allein gibt es schon 60 000. Und der WDR, der Westdeutsche Rundfunk, ist immer noch die größte öffentlich-rechtliche Anstalt Festland-Europas.

Ehe wir es vergessen: die Kohle! Wer kennt nicht die Bilder von rußgeschwärzten Gesichtern ausm Pütt. Nun, sechs Steinkohlebergwerke gibt es noch, die insgesamt 83 Prozent der Förderung in Deutschland übernehmen. 2018 allerdings werden die Subventionen enden, und damit auch der Steinkohlebergbau. Die Braunkohle im Rheinland stellt 55 Prozent der deutschen Förderung. Hier wird es wohl über 2018 hinausgehen.

So, das waren jetzt nur Zahlen.

WAS IST NORDRHEIN-WESTFÄLISCH?

Rheinland, Westfalen und Lippe – das ist das Land Nordrhein-Westfalen. Und es ist viel, viel mehr als eine Ansammlung von benachbarten Landschaften. Nehmen wir nur mal die Lipper, ganz eigene Leutchen im Nordosten des Landes, Richtung Detmold, Lemgo, Minden, lange Freistaat. Die kamen im Januar 1947 dazu. 1946 war NRW von den Briten zusammengefügt worden.

Der Kreis Lippe kann stolz sein auf fast 900 Jahre Geschichte. (Die Lippe, der Fluss, berührt das Gebiet dabei gar nicht.) Gebürtige Lipper sind übrigens Gerhard Schröder und Frank-Walter Steinmeier. Die wissen auch, was der „Lipper Schütze“ ist: ein Wacholderschnaps. Und die „Lippische Erfrischung“? Eine humorvolle Umschreibung für ein kurz geöffnetes Fenster, sie spielt wie beim Schottenwitz mit der Sparsamkeit der Lipper. Sie sind auch auf dem Wappen: links oben im Wappen der Rhein, rechts das Westfalen-Ross, unten die Lippische Rose.

Aber weiter, zum Neugierigmachen: Im schneereichen Sauerland kann man, wie in Altastenberg, wunderbar Skilaufen, im gewässerreichen Bergischen Land rechts des Rheins toll wandern, am Vater Rhein stehen Burgen wie nirgends sonst, das Siegerland ist landschaftlich anrührend, den Teutoburger Wald kennt jeder, weil dort Armin auf die Römer gewartet hat, aus Hagen kam Willi Weyer. Wer das war? Liberaler Landesinnenminister, später Chef des Deutschen Sportbundes, zu dem Fritz Steinhoff, der erste sozialdemokratische Ministerpräsident des Landes nach mehreren christdemokratischen, gesagt haben soll: „Wir Westfalen müssen das halten, was die Rheinländer versprechen.“

Womit doch schon einiges übers Rheinland gesagt ist. Ein bisschen leichtlebiger seien sie, die Rheinländer, heißt es. Leichtgängiger, würden die antworten. Sei’s drum, der Karneval ist eher im Rheinland zu Hause, und mit Westfalen, dem stolzen, ehrwürdigen, verbinden die meisten am ehesten wohl noch das Münsterland mit seiner schönen Stadt. Oder mit Pferden? Jedenfalls sind die besonders erfolgreich. Oder auch mit Franz Müntefering. Oder Friedrich Merz. Aber, richtig, die sind Sauerländer, und da fängt es schon wieder an: Westfalen ist nicht einfach Westfalen. Die Menschen sind so unterschiedlich wie die Städte, wie Coesfeld, Arnsberg, Bochum, Paderborn, Gelsenkirchen ... Unisono ist allerdings der Ruf des Landschaftsverbandes Westfalen, des großen Kommunalverbandes: Vergesst Westfalen nicht. Dass überall im Rheinland die Verbindung und Anbindung der Städte, besonders entlang der Rheinschiene, gut sei, es aber zwischen Münster und Bielefeld keine Autobahn gebe – ja, diese Klage zeigt: Westfalen kämpft mit dem Gefühl, „Restfalen“ zu sein. Was so nicht stimmt, weil dort die Pro-Kopf-Ausgaben des Landes seit Jahre höher sind. An der Konkurrenz der Landesteile ändert das nichts.

Besonders das Rheinland ist stolz auf Konrad Adenauer, der vormals Oberbürgermeister in Köln war und im Februar 1919 versuchte, eine „Rheinische Republik“ zu gründen. (Die kam später, 1923, ganz kurz, und war ein furchtbares Durcheinander. Premier wurde seinerzeit ein Redakteur der Kölnischen Volkszeitung … Doch der war nicht schuld. Schrieb später Kurt Tucholsky.) In seiner Ansprache 1919 jedenfalls bezeichnete Adenauer Preußen als bösen Geist Europas und forderte, es zu teilen. Dessen westliche Bundesstaaten müssten in einer „Westdeutschen Republik“ aufgehen. Dadurch würde die „Beherrschung Deutschlands durch ein vom Geiste des Ostens, vom Militarismus beherrschtes Preußen unmöglich gemacht“. Tja. Der Krieg kam, die Teilung auch.

Köln ist heute die größte und zweitreichste katholische Erzdiözese der Welt, das „Rom des Nordens“, und die größte Stadt in NRW mit fast einer Million Einwohnern. Gefolgt von? Nein, nicht der Landeshauptstadt Düsseldorf, sondern von – Dortmund! Und das ist Westfalenland. Westfalen war einmal Königreich, wenn auch in anderen Grenzen als heute, für einen Napoleon.

Man kommt ja ganz schön ins Reden, hätte Jürgen von Manger, 1994 in Herne gestorben, als der große Adolf Tegtmeier gesagt, als einer, der im Ruhrpottdialekt den Menschen aufs Maul schaute. Apropos Ruhrpott. Nein, nicht nur Schalke. Sondern der ist, angeführt von Essen, Kulturhauptstadt Europas in diesem Jahr. Warum auch nicht. Man denke nur an das Essener Opernhaus. Vom finnischen Architekten Alva Aalto entworfen, ein Schmuckstück, eines, um das die Kölner Essen beneiden. Oder das Bochumer Schauspielhaus.


WIE TYPISCH DEUTSCH SIND DIE NORDRHEIN-WESTFALEN?

So deutsch, wie man sein kann, wenn die Römer durchs Land gezogen sind, die Franzosen, wenn die Preußen da waren und die Polen gekommen sind und Portugiesen, Italiener, Jugoslawen und Türken nicht zuletzt. Ein Völkergemisch. Hat schon Carl Zuckmayer in „Des Teufels General“ beschrieben. Und das gilt nicht nur fürs Rheinische. Ja, und die Region Eupen-Malmedy ist belgisch heute. Europäisch ist NRW allemal. Das haben Adenauer und der Rhein geschafft.

VOR WELCHEN HERAUSFORDERUNGEN STEHT DAS BUNDESLAND?

Immer vor dem Strukturwandel und demnächst vor der Landtagswahl. Nach 39 Jahren SPD an der Regierung hatte 2005 Jürgen Rüttgers, Rheinländer, Christdemokrat, ehedem Erster Beigeordneter der Stadt Pulheim, Förderer des Holografiemuseums, gewonnen. Er will das Amt behalten, will dafür Arbeiterführer sein und Zukunftsgestalter. Kurzum, er will der eigentliche Erbe von Johannes Rau werden, dem Langzeit-Ministerpräsidenten aus dem Bergischen Land, dem Sozialdemokraten, dem es als Erstem gelang, das „Wir in Nordrhein-Westfalen“-Gefühl zu schaffen. Ohne eine große Lippe zu riskieren.

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