zum Hauptinhalt
Proteste in der Türkei gegen Erdogan.

© dpa

Die Türkei vor der Parlamentswahl: Schlag gegen seine Gegner könnte Erdogan selbst schaden

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan schüchtert seine Kritiker wenige Tage vor der Wahl ein. Das ist ein Ausdruck von Schwäche. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Thomas Seibert

Wenn einer der größten Medienkonzerne eines Landes vier Tage vor einer Parlamentswahl Besuch von Polizisten mit Wasserwerfern und Reizgas bekommt, muss sich die Regierung dieses Landes nicht wundern, dass Fragen nach dem Zustand der Demokratie gestellt werden.

In der Türkei ist am Mittwoch genau das geschehen. Journalistenverbände protestieren, die Opposition spricht von „Faschismus“, während die Regierung und Präsident Recep Tayyip Erdogan ungerührt bleiben. Mit diesem jüngsten Schlag gegen die Pressefreiheit könnte sich Erdogan jedoch am Ende selbst geschadet haben.

Regierungspartei und die Opposition gegen sich gegenseitig die Schuld am Terror

Die Polizeiaktion gegen das Unternehmen Koza Ipek lässt die Spannungen im Land vor der zweiten Parlamentswahl in diesem Jahr weiter ansteigen. Schon seit dem Anschlag von Ankara, bei dem mutmaßliche Anhänger der Terrormiliz „Islamischer Staat“ am 10. Oktober mehr als hundert Menschen töteten, wurde der Streit zwischen der Regierung und ihren Gegnern immer erbitterter. Die Regierungspartei AKP und die Opposition werfen sich gegenseitig vor, Schuld zu haben am Terror.

Nun kommt die Polizeiaktion gegen einen Medienkonzern hinzu, der zur islamischen Bewegung des Erdogan-Feindes Fethullah Gülen gehört. Die Wasserwerfer stehen aus Sicht vieler in der Türkei für eine zunehmende Willkür des Staates im Umgang mit seinen Kritikern. Rechtsstaatliche Kriterien werden immer häufiger ignoriert.

Die Justiz, die in den vergangenen Jahren von der AKP nach ihren eigenen Vorstellungen umgebaut wurde, bietet den Betroffenen keinen Schutz. Im südostanatolischen Diyarbakir will die Staatsanwaltschaft zwei 12 und 13 Jahre alte Kinder für mehr als vier Jahre ins Gefängnis bringen – sie hatten ein Plakat mit dem Konterfei Erdogan zerrissen, um es an einen Altpapierhändler zu verkaufen. Laut Presseberichten wurde das Strafverfahren vom Justizministerium in Ankara ausdrücklich genehmigt.

Der Polizeieinsatz bewirkt eine Solidarisierung von Regierungsgegnern

Vom Ausland können die Erdogan-Kritiker auch keine kraftvolle Unterstützung erwarten. Die EU zum Beispiel braucht Erdogan zur Bewältigung der Flüchtlingskrise und möchte die türkische Führung deshalb nicht verärgern. Die Veröffentlichung des diesjährigen EU-Fortschrittsberichts zur Türkei, der viel Kritik an Ankara enthält, wurde aus diesem Grund verschoben. Deutsche und europäische Gegner dieser Sachte-sachte-Politik, die schon gegen den jüngsten Türkei-Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel protestierten, werden sich bestätigt sehen.

Möglicherweise ist Ankara mit der Aktion gegen die unliebsamen Medien von Koza Ipek jedoch einen Schritt zu weit gegangen. Am Mittwoch zeichnete sich ab, dass der Polizeieinsatz eine Solidarisierung von Regierungsgegnern bewirkt hat. Auch Vertreter von Parteien und Medien, die normalerweise keinerlei Sympathie für die Gülen-Gemeinschaft empfinden, reagierten empört: Sie wissen, dass sie als Nächste an der Reihe sein könnten.

Zudem ist das Vorgehen gegen die Medien ein deutliches Zeichen der Schwäche. Die Regierung ist kurz vor der Wahl offenbar nicht sicher, dass sie ihre Ziele mit erlaubten Mitteln erreichen kann.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false