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Regierung: Durch den Wind: Zur Lage der Kanzlerin

Der Traum von einer bürgerlichen Koalition ist zum Albtraum geworden. Jeder misstraut im schwarz-gelben Bündnis jedem, das zentrale Wort heißt Nein. Was Kanzlerin Merkel nicht kann, wird immer deutlicher. Eine Bestandsaufnahme.

Von Robert Birnbaum

Angela Merkel hat eine gute halbe Stunde Zeit, und das hat ihr jetzt gerade noch gefehlt. Aber die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende hat dem Wirtschaftsrat schon vor langer Zeit zugesagt. Darum muss sie auf der Tribüne im Saal des Berliner Hotels Interconti sitzen und zuhören, wie der Chef des parteinahen Vereins dem Weltbankpräsidenten Robert Zoellick die Ludwig-Erhard-Medaille verleiht. Zoellick ist ein Mann mit großen Verdiensten. Der Präsident des Wirtschaftsrats, Kurt J. Lauk, ist ein Mann mit einer halben Brille und krausen Haaren. Lauk redet, Zoellick dankt. Merkel sitzt auf ihrem Platz, einen dünnen Filzstift in der Hand. Sie schreibt mit sorgfältigen Handbewegungen Sätze ins Manuskript. Manchmal schaut sie auf ihr Handy, liest etwas vom Display, schreibt wieder. Nur als Zoellick sie anspricht – „Chancellor Mörkl“ – guckt sie auf und lächelt zum Pult herüber. Den ganzen Rest der Zeit sitzt Angela Merkel versunken in ihrer Welt.

Man könnte die Szene für die berühmte Ruhe halten, die im Zentrum des Orkans herrscht. Aber es gibt keine Ruhe, im Zentrum schon gar nicht, nur den Sturm überall.

Peter Altmaier neigt ab und an zu Galgenhumor. „Ich darf darauf hinweisen, dass es diese Woche noch keine Rücktritte gegeben hat“, merkt der Parlamentarische Geschäftsführer der Union am Dienstag an. Ende der Woche stimmt das immer noch, zwischenzeitlich war es nicht sicher. Seit Wochen geht das jetzt so. Die Griechenlandkrise. Roland Kochs Rückzug. Horst Köhlers Rücktritt. Das Gehakele um die Kür von Christian Wulff zum Bundespräsidentenkandidaten. Das Gehacke um die Gesundheitsreform. Das Gehacke um die Atomkraft. Die Sparklausur. Das Gehacke um das Sparpaket. „Wildsau.“ „Gurkentruppe.“

Dieser Tage hat ein wichtiger Koalitionär einen sehr altgedienten Journalisten gefragt, ob er in seinem langen Berufsleben Vergleichbares schon mal erlebt habe. Der Mann hat mit einer Jahreszahl geantwortet: „1981.“ Die Endphase der sozialliberalen Koalition kurz vor der Wende der FDP zu Helmut Kohl.

Viele haben begriffen, wie ernst die Lage ist. Nur die FDP merkt nichts

So weit ist es? Na ja, sagen alle. Aber richtig ernsthaft widerspricht keiner. Die Krise ist dreifach: eine reale, eine inhaltliche, eine emotionale. Real ist die Kette von Weltkrisen, von denen keine einzige ausgestanden ist. Inhaltlich klaffen Welten zwischen Schwarzen und Gelben. Und emotional herrschen Misstrauen, Ärger, Wut. „Die haben wirklich geglaubt, dass sie mit ihren 14 Prozent die Richtlinien der Politik bestimmen“, schimpft ein Unionsmann. „Die wollen uns unterbuttern“, klagt ein FDP-Mann. Eine „Überdosis“ an Problemen diagnostiziert ein Koalitionär.

Überdosis aber, wenn sie unbehandelt bleibt, führt rasch zum Tod.An jenem Mittwochabend, an dem sie auf dem Podium Filzstiftsätze schreibt, überschreitet Frau Doktor Angela Merkel um ein Haar die kritische Dosis. Bevor sie zum Wirtschaftsrat fuhr, hat die Kanzlerin einen Satz zum Opel-Streit gesagt. Gerade hatte Wirtschaftsminister Rainer Brüderle von der FDP Bürgschaften für den angeschlagenen Autobauer abgelehnt. Sein Nein gab den Ausschlag im Lenkungsausschuss gegen das Ja der CDU-Vertreter. Merkel reagierte prompt: „Ich möchte deutlich machen, dass das letzte Wort für die Zukunft Opels nicht gesprochen ist.“ Bei der FDP glaubten sie ihren Ohren nicht zu trauen. Was war das? Die Drohung mit der Richtlinienkompetenz?

Am nächsten Morgen warnt FDP-Generalsekretär Christian Lindner vor „winkeladvokatorischen Versuchen“, Brüderles Veto zu umgehen. Lindner wird dabei vielleicht den Kanzleramtsminister Ronald Pofalla vor Augen gehabt haben, den manche in der FDP für einen CDU-Generalsekretär im Kabinettsrang halten und der es schon einmal geschafft hatte, Brüderles Entscheidung über die Causa Opel hinauszuzögern.

Die Kanzlerin muss mit leeren Händen vor die Ministerpräsidenten der Opel-Länder treten

Nötig war die Warnung nicht mehr, Merkel hatte vorher verstanden. Am Nachmittag trat sie mit leeren Händen vor die Ministerpräsidenten der Opel-Länder. Die ärgerten sich laut und staunten still: Dass sich Angela Merkel, die Vorsichtige, selbst eine derart offene Niederlage zufügt – das ist neu. Bei den Liberalen staunten sie auch. Ausgerechnet der blässliche Brüderle hat den ersten Punkt in acht Monaten Koalition gemacht!

Man kann aus der Episode viel darüber lernen, warum dieses Bündnis nicht funktioniert. Weil sie einander nicht über den Weg trauen. Weil ein Nein ein Erfolg ist. Und weil Merkel, nachdem sie so viele Machtkämpfe gewonnen hat, noch machtloser ist als je zuvor.

Alle sagen Nein

Erstens: Nein ist das zentrale Wort in dieser Koalition der Blockierer. Angela Merkel lehnt das FDP-Vorzeigeprojekt Steuersenkungen ab, Horst Seehofer das FDP-Vorzeigeprojekt Gesundheitsprämie. Gemeinsame Ziele darüber hinaus? Fehlanzeige. Rot-Grün hat noch zu schlimmsten Chaoszeiten einen Vorrat an Projekten gehabt.

Guido Westerwelle hat sowieso nichts mehr vorzuzeigen als das Nein. Seit der blau-gelbe Ballon mit der Aufschrift „Einfach, niedrig und gerecht“ geplatzt ist, kämpft der FDP-Chef dafür, dass er wenigstens keinerlei Steuererhöhungen zustimmen muss.

Der Preis ist hoch. Westerwelle wird zur Karikatur seiner selbst, ein pharisäischer Schriftgläubiger, der sich an den Buchstaben seines Wahlprogramms klammert. Als in der Kabinettsklausur Innenminister Thomas de Maizière anmahnt, dass in einem Krisensparpaket auch Wohlhabende ihr Steueropfer bringen sollten, reagiert Westerwelle – so erinnern sich CDU-Teilnehmer – „sehr scharf“, ja „schneidig“. Aber der gleiche Westerwelle hat jahrelang geackert, um der FDP das Etikett der Partei der Besserverdienenden abzukratzen. Jetzt hat er dafür gesorgt, dass sich Besserverdiener schon eine Tüte voll Atombrennstäbe kaufen müssten, wenn sie beim Sparen mittun wollen. Dabei wollen sie mittun. Beim Wirtschaftsrat applaudieren 2500 Damen und Herren der gehobenen mittelständischen Einkommensklassen fast frenetisch, als ihr Vormann Lauk bekundet, in der Not müssten „Arm und Reich“ zusammenstehen. Dass Lauk im übernächsten Satz aus schierer Gewohnheit gegen „Sozialdemokratisierung“ wettert, findet keine Resonanz. Zwei Jahre Dauerfinanzkrise haben die Wahrnehmung der Wirklichkeit verändert. Bei vielen ist angekommen, dass die Lage zu ernst ist, um sich Ideologie leisten zu können. „Nur Westerwelle braucht immer noch, um das zu merken“, lästert ein CDU-Promi.

Jeder misstraut jedem

Zweitens: das Misstrauen.

Es fängt oben an, bei den großen drei der Koalition. Westerwelle traut Merkel und ihren Leuten nicht – immer wieder beschwert sich der FDP-Vorsitzende in seinem eigenen Präsidium, sieht sich hintergangen, ausgetrickst, nicht respektiert. „Mimosenhaft“ finden sie den Vizekanzler umgekehrt bei der CDU, beleidigt schon aus kleinstem Anlass. Merkel ist diese leberwurstige Empfindsamkeit fremd. Außerdem hat sie sich vier Jahre lang in der großen Koalition vom neoliberalen Rand zur Mitte der Gesellschaft hin vorgearbeitet. Auch deshalb kommt sie diesem Partner nicht entgegen, der sie zurückzuzerren versucht.

Nur auf eins können sich die CDU-Chefin und der FDP-Chef rasch einigen, dass nämlich dem CSU-Kollegen überhaupt nicht zu trauen ist. Diesem Seehofer, der seine Kettenhunde in rüdesten Tönen bellen lässt, aber den Ehrenmann hervorkehrt und Spitzengespräche anberaumt, wenn mal ein FDP-Mann mit Regierungsamt zurückkoffert. Seehofer gilt in CDU wie FDP schlicht als einer, der am Erfolg der Berliner Koalition wenig Interesse hat und am Erfolg der FDP gar keins.

Womit wir beim Dritten wären: der Kanzlerin und der Macht.

An dem Dienstagabend, als Christian Wulff beim Abendessen mit Angela Merkel im Kanzleramt erkennen ließ, dass er mit seinen 50 Jahren das Amt des Bundespräsidenten passend fände, neigte sich eine kleine Ära dem Ende zu. Der Niedersachse Wulff und der Hesse Roland Koch sind die Stärksten aus dem Männerbund gewesen, der Merkel lange die Macht streitig gemacht hat. Sie hat viel Kraft aus diesen Widersachern gezogen. Das klingt paradox. Aber die Verfolgte, die Umstellte, die Bedrohte – das war ein Erfolgsmodell. Jede siegreich überstandene Verschwörung ließ sie wachsen, sogar Verschwörungen, die es nie gab. Koch hat den Mechanismus früh erkannt. Ändern konnte er nichts daran, dass jeder Widerspruch in der Sache als Angriff auf die Person gedeutet wurde und damit rasch jede Wucht verlor.

Bei dem Gedanken, es könnte so weitergehen, schüttelt es alle

Die starken Jungs sind jetzt weg oder, wie Jürgen Rüttgers, schwer angeschlagen. Merkels Widersacher in der Partei gehören bis auf Weiteres einer anderen Gewichtsklasse an – Regionalfürsten wie der Schleswig-Holsteiner Peter Harry Carstensen oder bundespolitische Nobodys wie Stefan Mappus aus Stuttgart.

Merkel ist alleine übrig geblieben. Sie scheint mächtiger als je zuvor. Die Erwartung, die Anforderungen, die Hoffnungen ruhen auf ihr. Oder soll man besser sagen: Sie lasten auf ihr?

Denn die Schwergewichte sind fort, aber die Gewichte sind geblieben. Nordrhein-Westfalen stellt immer noch ein Drittel aller Parteitagsdelegierten. Die Stimme Schleswig-Holsteins wird im Bundesrat gebraucht. Im Kabinett sitzen viele Neulinge und die Routiniers auf neuen Posten: „Sie muss erst mal ihre starken Minister prüfen“, sagt ein kritischer Beobachter aus den eigenen Reihen.

Und alleine auf dem Gipfel werden alle Defizite weithin sichtbar, das, was sie nicht kann. Ein Sparpaket so vorstellen, dass es Wucht entwickelt zum Beispiel – drei Sätze Pathos hat Merkel versucht, mehr nicht. Der Inhalt ist ja auch nicht glanzvoll, sondern bloß vernünftig im Rahmen dessen, was in ihrer Macht liegt. So wie Wulff, der Kandidat, den die Vernunft diktierte. Merkels Erfolge waren immer schon von der Art – Bruchlandungen, trotzdem am Boden. „Zehn Zentimeter zu kurz, zehn Minuten zu spät“, fasst einer zusammen, der sie lange kennt. Doch das klappt nur mit einem sehr stabilen Flugzeug und einer guten Crew.

Im Hotel Interconti faltet Angela Merkel ihre Manuskriptmappe zusammen und geht zum Rednerpult. Sie wird gleich ein kleines Machtwort sprechen. Die FDP hat es dringend eingefordert. Seit zwei Tagen nehmen CDU-Politiker das Sparpaket unter Feuer und verlangen soziale Balance. Soziale Balance geht nur mit Steuererhöhungen, direkt oder indirekt. Das Paket sei ausgewogen, sagt die Kanzlerin: „Ich habe entschieden.“

Das stimmt. Sie hat nicht bis zur letzten Konsequenz gekämpft für mehr. Darum hat wieder das Nein entscheiden können. Bei dem Gedanken, dass das so weitergeht, schüttelt es alle. Wie es stattdessen weitergehen soll? „Die Union muss lernen, uns Erfolge zu gönnen“, sagt einer von jenen Liberalen, die zugleich wissen, dass die eigene Partei sich dringend selber neue Ziele stecken muss, in der Wirklichkeit und nicht im Steuerparadies. Bei der Union ist der Pessimismus verbreiteter. Ja sicher, dieses Sparpaket, irgendwie kriegen wir da auch noch eine soziale Komponente rein, nachträglich und ohne dass die Freidemokraten gleich wieder aufschreien. Nur merkt das dann auch keiner. Viele Meter zu kurz, um Wochen zu spät.

Eigentlich, sagen sehr ernst zu nehmende Christdemokraten, eigentlich kann es nur gut werden, wenn sich Westerwelle ändert oder die FDP ihn rausschmeißt. Aber das eine braucht Zeit und auf das andere zu warten noch viel mehr. Genug Zeit allemal, um den Traum von der soliden bürgerlichen Koalition vollends in einen Albtraum zu verwandeln. Die Wahrheit ist, dass sie aneinandergefesselt sind. Längst wird ja auch jeder ins Gebet genommen, der im Verdacht steht, er könnte das Herz über die Parteivernunft stellen und Joachim Gauck zum Bundespräsidenten wählen. Manche nimmt Merkel persönlich beiseite. Man wird am 30. Juni abzählen können, wie viel Macht ihr Wort noch hat und das von Guido Westerwelle. In der CDU haben einige sicherheitshalber aber schon mal in den Chroniken nachgeschaut. Nicht in denen von 1981, sondern von 1994. Roman Herzog, kann man da nämlich nachlesen, ist auch erst im dritten Wahlgang Präsident geworden.

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