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Der Vizepräsident des EU-Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff (FDP).

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FDP-Europaabgeordneter Alexander Graf Lambsdorff: "In der Türkei glaubt man nicht mehr an einen EU-Beitritt"

Der Vizepräsident des EU-Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff, plädiert dafür, dass die EU und die Türkei eine gemeinsame Agenda ausarbeiten - und statt dessen den Beitrittsprozess aufgeben.

Herr Lambsdorff, der Plan des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, aus der Türkei eine eigenständige Großmacht in der Region zu machen, scheint gescheitert. Orientiert sich die Türkei jetzt wieder Richtung Europa?

Ja, das ist deutlich zu sehen. Die vorher betriebene sogenannte neo-osmanische Politik habe ich immer für eine Seifenblase gehalten. Sämtliche Versuche in der Türkei, sich nach Zentralasien, Russland, Afrika oder in die unmittelbare arabische Nachbarschaft zu orientieren, sind gescheitert. Die Sicherheitsgarantie für die Türkei kommt von der Nato. Der wirtschaftliche Wohlstand der Türkei wird durch Zugang zum größten Markt der Welt – nämlich zur Europäischen Union – ermöglicht. Das erkennt man in der Türkei glücklicherweise wieder.

In wie weit unterscheiden sich die strategischen Interessen Ankaras und der Europäer in der Region – insbesondere mit Blick auf den Kampf gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“?

Ankara versucht mit allen Mitteln, die Entstehung eines kurdischen Staates in der Region zu verhindern – sei es im Irak, in Syrien oder auf eigenem Territorium. Das führt mitunter zu unseligen Allianzen mit sunnitischen Terrororganisationen im Ausland und einem Krieg gegen die eigene Bevölkerung im Inland. Das Resultat: Die Türkei, die von außen recht stabil wirkt, befindet sich in Wahrheit in einer tiefen Krise.

Erdogan geht seit einigen Wochen verstärkt gegen die pro-kurdische Partei HDP vor.

Ich war gerade in Istanbul, wo mir mehrere Gesprächspartner gesagt haben, dass sie das Land kurz vor einem Bürgerkrieg sähen. Und die Lage ist wirklich dramatisch: Zum ersten Mal werden bewaffnete Konflikte in großen Städten wie Diyarbakir ausgetragen. Es gibt Mörserangriffe auf kurdische Wohngebiete, gleichzeitig sind tausende von Kurden inhaftiert, hunderttausende auf der Flucht. Der gegenseitige Hass in der türkischen Gesellschaft hat wieder ein Maß erreicht wie in längst überwunden geglaubten, schlechten alten Zeiten. Fatal daran ist, dass Präsident Erdogan diese Zuspitzung im Kurdenkonflikt bewusst gesucht hat, weil die HDP bei den Wahlen im Juni 2015 ein so gutes Ergebnis erzielte, dass die AKP die absolute Mehrheit verfehlte.

Ist es unter diesen Umständen überhaupt denkbar, dass die EU die Türkei zum sicheren Herkunftsland erklärt?

Mit Blick auf den Konflikt in den Kurdengebieten halte ich dies für menschlich und moralisch falsch. Der Westen der Türkei ist dagegen im Rechtssinne sicher, trotz des schrecklichen Anschlags in Istanbul.

Ist das Kräfteverhältnis zwischen den Europäern und der Türkei derzeit nicht ungleich? Sind nicht die Europäer bei der Terrorbekämpfung und in der Flüchtlingskrise mehr auf die Türkei angewiesen als umgekehrt?

Die Beziehungen der Europäer und der Türkei sind so vielschichtig, dass sich die Frage nicht einfach beantworten lässt. Richtig ist, dass die Türkei wegen der Lage in Syrien und angesichts der Flüchtlingsströme für uns ein zentraler Partner ist, mit dem wir gut zusammenarbeiten müssen. Die Türkei hat es in dieser Situation auch geschafft, eigene Interessen wie die Visaerleichterungen zu thematisieren. Andererseits hat Ankara wieder erkannt, dass der Türkei politisch und wirtschaftlich nur die Orientierung in Richtung EU und USA eine sichere Zukunft und Wohlstand sichert.

Aber der EU-Beitrittsprozess der Türkei dümpelt vor sich hin.

Sowohl im konservativen AKP-Lager als auch in liberalen oder linken Gruppen in der Türkei glaubt man nicht mehr, dass es einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union geben wird. Wenn man bei Gesprächspartnern in der Türkei die EU-Beitrittskriterien Demokratie, Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit erwähnt, erntet man resigniertes Kopfschütteln. Die innenpolitische Entwicklung in der Türkei bei den Grundrechten oder der Meinungsfreiheit ist das genaue Gegenteil dessen, was ein ernsthafter Beitrittskandidat zeigen müsste. Trotzdem wird ein inzwischen seit zehn Jahren stagnierender, zombiehafter Beitrittsprozess weiter betrieben.

Sollten die Beitrittsgespräche beendet werden?

Es wäre ganz falsch, einfach die Tür zuzuschlagen und jeder geht seines Weges, wie zum Beispiel die CSU das will. Die Türkei ist und bleibt ein schwieriger, aber eben auch ein wichtiger Partner. Statt des Beitrittsprozesses sollten die EU und die Türkei eine umfassende positive Agenda ausarbeiten, die auf gemeinsamen Interessen beruht. Rat und Kommission müssen den Beitrittsprozess umwandeln, auch, damit wir mit der Türkei auf Augenhöhe reden und sie nicht immer wie ein Bittsteller behandelt wird, was in der Natur der Beitrittslogik liegt. Ein konstruktiver und respektvoller Umgang würde es möglich machen, auf zahlreichen Themenfeldern Fortschritte zu erzielen, bei denen das bisher nicht der Fall ist, weil die entsprechenden Kapitel der Beitrittsverhandlungen blockiert sind. Ob das Energie, Terrorbekämpfung, Sicherheitspolitik, Visaliberalisierung, Umweltfragen oder die Kooperation in Wissenschaft und Forschung ist – es gibt unglaublich viel gemeinsam zu erreichen.

Der EU-Beitrittsprozess ist obsolet?

Es gibt ihn noch, doch weder ist das Ende zeitlich absehbar, noch gibt es auch nur den Ansatz einer Bereitschaft beispielsweise in Frankreich, Österreich oder den Niederlanden, die Türkei tatsächlich aufzunehmen. Von daher ist der Beitrittsprozess im Grunde unehrlich – und zwar auf beiden Seiten.

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