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Grenzzaun Israel

© Imago

Israel: Despotie oder Demokratie

Der Konflikt geht an die Wurzeln: Israel versucht den Spagat zwischen jüdischer Identität und freiheitlichem Staat. Sind kollektive Rechte für Minderheiten mit der Anerkennung der Hegemonie einer ethnischen Gruppe möglich?

Seit seinem Entstehen vor fast 60 Jahren rühmt sich Israel, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein. Die demokratische Visitenkarte war im Kalten Krieg ein probates Mittel, um im arabisch-israelischen und palästinensisch-israelischen Konflikt die Unterstützung des Westens zu gewinnen. Die Ereignisse seit dem Beginn der El-Aksa-Intifada im September 2000 und seit 9/11 haben dieser alten Argumentation neue Kraft verliehen: Der Judenstaat konnte sich auf die Rückendeckung der christlichen Welt, vor allem der USA, verlassen, und sich als Speerspitze im Kampf gegen die „Schurkenstaaten“ etablieren.

Von der Gründung des Staates Israel an gab es eine rege Debatte um die Beziehung zwischen dem Jüdischen und dem Demokratischen in Israel. Mit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 und der Besetzung palästinensischer Gebiete erhielt sie eine neue Dimension. Das Jüdische rückte dabei immer stärker in das Zentrum der Diskussion. Die Frage nach dem demokratischen und/oder jüdischen Charakter des Staates Israel ist zur Gretchenfrage geworden.

„Demokratisch“ und „jüdisch“ werden dabei nicht von allen Beteiligten im gleichen Sinn verstanden. In der Unabhängigkeitserklärung vom 14. Mai 1948 heißt es, der Staat Israel „wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestützt sein. Er wird für soziale und politische Gleichberechtigung aller seiner Bürger ohne Unterschied von Religion, Herkunft und Geschlecht sorgen.Wir wenden uns an die in Israel lebenden Araber mit dem Aufrufe, sich aufgrund voller bürgerlicher Gleichberechtigung am Aufbau des Staates zu beteiligen.“

Diese Erklärung wurde vom Obersten Gerichtshof als verpflichtende Richtlinie aufgenommen. In den fünfziger Jahren verankerte sich die Idee einer Demokratie, nicht zuletzt, weil Juden die Bevölkerungsmehrheit stellten. Doch die seit 1967 herrschenden Verhältnisse sind zur größten Herausforderung der Demokratie in Israel, der „jüdischen Demokratie“, geworden. Es war ausgerechnet ein religiöser Denker, Yeshajahu Leibowitz, der erkannt hatte: Wenn Israel besetzte Gebiete behält, in denen die Strukturen und Regeln der Demokratie außer Kraft gesetzt sind, kann auch die Demokratie im Kernland nicht überleben.

Tatsächlich schuf die Besetzung der Gebiete jenseits der grünen Linie einen spillover effect. Die israelischen Staatsbürger, die sich als Araber oder Palästinenser verstehen, wurden nach dem Sechs-Tage-Krieg zum Prüfstein beim Versuch, das Jüdische und das Demokratische zusammenzuführen. Noch vor einem Jahr meinten rund 60 Prozent der israelischen Juden, man solle die Auswanderung der israelischen Araber staatlich fördern. Eine Mehrheit glaubt heute noch, die parlamentarischen Vertreter der israelischen Araber dürften nicht an „existenziellen Entscheidungen“ des Parlaments oder der Regierung teilnehmen .

Was hat sich also geändert außer der politischen Großwetterlage im Nahen Osten? War es ein neues Verständnis von Demokratie oder eine neue Vorstellung vom Jüdischsein? Das Prinzip, nachdem die Mehrheit ihre Macht nicht zur „Despotie der Mehrheit“ ausarten lassen darf, wurde im Katalog demokratischer Grundregeln marginalisiert, obwohl es gerade dieses Prinzip war, das Juden in der Diaspora zu schätzen gelernt hatten. Das wiederum wäre nicht geschehen, wenn nicht das Jüdische neue Bedeutungsvarianten erhalten hätte.

In der Fachliteratur ist die Problematik unterbelichtet. Es war die Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten Yitzchak Rabins 1995, die eine hitzige Debatte darüber eröffnete. Amnon Rubinstein, ehemaliger liberaler Minister und Spezialist für Verfassungsrecht, hat 2003 gemeinsam mit einem Althistoriker versucht, den Vorwurf der Diskrepanz zwischen dem Jüdischen und dem Demokratischen zu widerlegen. Sein Buch „Israel und die Völkerfamilie: Ein jüdischer Nationalstaat und die Menschenrechte“ zeigt, dass man begriffen hatte, das Jüdische auch im säkularen Begriff der Nation zu problematisieren.

Hier bearbeitet Rubinstein das gleiche Terrain wie die israelische Juristin und Menschenrechtsexpertin Ruth Gavison. Sie hatte 1999 ihre Arbeit „Ein jüdischer und demokratischer Staat“ veröffentlicht. Israel, so erklärt Gavison das Grundproblem, „ist nicht als Staat aller seiner Bürger entstanden, sondern als Verwirklichung des Rechtes des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung“.

Da die Maßstäbe der liberalen Demokratie schwer in Einklang zu bringen sind mit der Vorstellung vom jüdischen Staat, greifen Sozialwissenschaftler zum Begriff der ethnischen Demokratie – und meinen damit ein Staatswesen, in dem individuelle Rechte, kollektive Rechte für Minderheiten und die Anerkennung der Hegemonie einer der ethnischen Gruppen möglich ist. Der Soziologe Smooha, der Israel als ein solches Modell betrachtete und damit den Vorwurf der Herrenvolk-Demokratie zurückwies, konnte dies 1995, also vor Rabins Ermordung, noch guten Gewissens tun. Mehr als 70 Prozent der Juden und zwei Drittel der Araber Israels waren damals mit einer derartigen Demokratie einverstanden.

Spätestens mit der Intifada im Jahre 2000 bestätigten sich aber Prognosen des linken Geografen Yiftachel, denen zufolge die ethnische Demokratie keine realistische Lösung mit einem wahren demokratischen Inhalt anbieten könne. Er operiert daher mit dem Begriff Ethnokratie. Israels Bestreben, das Land zu „judaisieren“, kennzeichnet für ihn den Konflikt zwischen jüdisch und demokratisch.

Es beginnt mit dem Rückkehrgesetz, das nur Juden das automatische Recht auf Staatsbürgerschaft garantiert, und setzt sich fort in anderen Gesetzen. Die „Judaisierung“ drückt sich auch im Alltag aus. Kein Wunder, dass der Politologe Adam Danel 2003 in seinem Buch „Ein jüdischer und demokratischer Staat“ angesichts des theoretischen Willens, den demokratischen Charakter eines Staates zu bewahren, der jüdisch bleiben muss, vorschlägt: „Der Versuch, im ausschließlichen Rahmen der Institution Staat zwischen der Verpflichtung zu einer jüdischen Mehrheit und einer notwendigen Verpflichtung gegenüber einer Gleichheit von Juden und Nichtjuden (zu einem Ausgleich zu kommen), ist zum Scheitern verurteilt.“ Der Bereich jenseits des Staates, in dem es nicht scheitern sollte, wäre bei Danel die multi-kulturelle Demokratie.

Die Zeitschrift „Demokratische Kultur“ hat das Thema mehrfach aufgenommen. 1999 befasste sich ein Aufsatz mit dem Problem „Halacha und Demokratie“, ein anderer mit „Judentum und Demokratie – Ein Konflikt?“ Der erste Aufsatz verweist das Problem in den Bereich des national-ethnischen Charakters des Staates überhaupt und zeigt, wie der zweite Oberrabbiner Israels, nach einem modus vivendi zwischen Halacha, dem gesetzlichen Teil der überlieferten rabbinischen Literatur, und Demokratie suchte. Am Ende aber muss er zugeben: „Ja, wir haben ein Problem“. Ein zweiter Aufsatz erklärt, es gebe keinen prinzipiellen Konflikt zwischen Judentum und Demokratie, wenn man statt Judentum Halacha sage. Die populäre Auffassung von Halacha führt zu einem anderen Ergebnis.

Man findet auch Zvi Jehuda Kooks radikale Position: „Ein demokratisches Arrangement ist dann annehmbar, wenn die Mehrheit entscheidet, d. h. die jüdische Mehrheit. Eine Minderheitsregierung gemeint ist eine Regierung, an der die Minderheit beteiligt ist] ist eine sektorale Arroganz, Hochmut (Chuzpa) ... Sakrileg.“ Rabbiner Zvi Jehuda Kook war der Rabbiner der israelischen Siedlerbewegung, und seine Haltung leitete auch den Mörder Rabins. Yigal Amir „exekutierte“ einen Ministerpräsidenten, der ein Abkommen mit den Palästinensern nur mit Hilfe der Stimmen der arabischen Abgeordneten hatte ratifizieren können.

Zvi Jehuda hat sich auch offen gegen die europäische Kultur – also auch die europäische Version von Demokratie – gestellt und sie schlicht als unrein bezeichnet. Zugegeben – die Mehrheit der Israelis versteht unter Judentum etwas anderes. Doch gerade in einer Gesellschaft, die sich zwischen säkularisierten Mitgliedern und Fundamentalisten bewegt, bietet diese Interpretation eine breite Resonanzplattform an. Hier bedeutet die Kombination des Jüdischen und des Demokratischen eher Konflikt als Übereinstimmung. Wer dabei am Ende die Oberhand behält, ist offen.

Der Autor ist Professor für deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem. Sein Essay basiert auf der Mosse-Lecture, die er gestern Abend an der Humboldt-Universität zu Berlin hielt.

Moshe Zimmermann

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