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Lampedusa gehört zu

© AFP

Politik: Lampedusa Was passiert auf ?

Fast jeden Tag versuchen Flüchtlinge nach Europa zu gelangen. Sie setzen sich in marode Boote und müssen um ihr Leben bangen. Für viele wird das Mittelmeer zum Grab. Doch einige schaffen es bis auf die Insel der Hoffnung.

Es ist weit nach Mitternacht. Der Suchscheinwerfer der „O.Corsi“ tastet die Hafeneinfahrt ab. Dann schiebt sich das grauweiße Schiff der Küstenwache steuerbords an den Fähranleger. Beamte mit weißen Overalls und Mundschutz lassen die Gangway herunter, Sanitäter schieben Tragen auf Rollgestellen heran. Weder Schreie noch Sirenen hallen durch die warme Septembernacht, obschon an Bord rund 200 afrikanische Schiffbrüchige hocken, auch Schwangere und Säuglinge.

Frauen und Kinder verlassen das Schiff zuerst, die Männer warten zusammengekauert am Heck. Zwei Videokameras sind auf die Afrikanerinnen gerichtet, als sie nacheinander auf die Landungsbrücke treten. „Uno!“, zählt ein Uniformierter laut, „Due! Tre! Quattro!“ Noch sind die Neuankömmlinge namenlos – ebenso wie die immer wieder tot geborgenen Flüchtlinge, die unter Holzkreuzen auf dem marmornen Inselfriedhof liegen.

Schweiß rinnt über das Gesicht eines übermüdeten Retters, als er ein in goldfarbene Rettungsfolie gewickeltes Baby an Land trägt. Meist sind die Mütter zu entkräftet, um schon allein sicher von Bord zu gehen. Prompt stolpert Nummer 22 auf dem Treppchen und fällt. Beamte eilen zu ihr und richten sie auf. Auf dem festen Boden des Piers bekommt sie ihr Kind zurück. Dann bringt sie der Bus mit der Aufschrift „Lampedusa Accoglienza“ (Lampedusa Empfang), in das abgeschiedene Auffanglager.

„Lampedusa ist das gewöhnt“, sagt Bürgermeisterin Giusi Nicolini knapp, allerdings könne die Insel nur erste Hilfe leisten. Das aber gehöre zu ihrer Seele. Erst zwei Tage zuvor half die Küstenwache 65 Erwachsenen und 28 Babies aus dem Mittelmeer. Komplette syrische Familien seien darunter, „Eltern, Kinder und Großeltern“, erzählt ein Helfer. „8000 Dollar pro Kopf mussten sie für die Flucht zahlen.“

Die Mehrzahl der Syrer landet bei Syrakus oder Catania auf Sizilien, einige aber reisen wie die meisten Afrikaner derzeit über Libyen, da liegt Lampedusa auf dem Weg. Die in Tripolis startenden maroden Boote sollen meist gar nicht aus eigener Kraft Europa erreichen. Neben einer lächerlichen Menge Trinkwasser statten libysche Schlepper die Migranten mit Satellitentelefonen aus. Sobald diese internationale Gewässer erreichen, sollen sie die italienische Küstenwache (Guardia Costiera) zu Hilfe rufen – falls die Kähne so lange durchhalten. „Wenn der Motor streikt, fällt auch die Pumpe aus, die eintretendes Wasser aus dem Rumpf befördert“, erklärt ein Mitarbeiter der Küstenwache. Schnell liefen die Boote voll und sänken. Nicht immer kommt die Guardia Costiera rechtzeitig oder wird überhaupt über eine Havarie informiert.

Ein Vertreter der Behörden, der namenlos bleiben möchte, spricht von mehr als 1000 Migranten, die zwischen Januar und August 2013 im Mittelmeer ertrunken seien. Eine genaue Zahl sei nicht zu ermitteln – die Schätzung beruht auf Erfahrung und registrierten Unglücken.

Einige schaffen es trotz aller Widrigkeiten. Zum Beispiel der 28-jährige Thomas aus Eritrea. Innerhalb von vier Monaten hat er drei Anläufe genommen, um nach Europa zu gelangen. Der erste Versuch endete bereits nach 200 Metern durch einen Motorschaden. Beim zweiten Mal zerbrach das Schiff. Zwei Stunden schleppender Fahrt lagen zwar schon hinter ihm, dennoch befand er sich weiterhin in libyschen Gewässern. Erst die dritte Tour brachte ihn in den Operationsbereich der Guardia Costiera. Jeder dieser Versuche hat den jungen Mann 700 Dollar gekostet. Geld, für das er unter anderem vier Jahre lang in Libyen Autos gewaschen hat. 1400 Dollar für nichts als Todesgefahr. Aber bei wem sollte er reklamieren?

Die Makler, „die Broker“ wie Thomas sagt, sind namenlos, der „Big Boss“ ohnehin. Fensterlos war der Bus, der ihn zu seinem Versteck für die Tage bis zur Abreise brachte. Ein einsames Anwesen im libyschen Hinterland, vielleicht eine Stunde von Tripolis entfernt. Ein Freiluft-Wartesaal für hunderte afrikanische Flüchtlinge, die ihr Glück in Europa suchen wollen. Sie schliefen unter Bäumen, bekamen nur Brot und Wasser. „Es reichte nicht, um satt zu werden“, berichtet Thomas. Aber immerhin seien sie einigermaßen sicher gewesen vor willkürlicher Gewalt durch Soldaten, Islamisten und Polizei, ergänzt sein Freund Abrham, ein zierlicher Mann mit kindlichem Gesicht. Auch er stammt aus Eritrea, kennengelernt haben sie sich aber erst in Tripolis.

Der libysche Schleuser in Shorts und Unterhemd habe ihn zu Beginn der Überfahrt angewiesen, das Boot mithilfe eines Kompasses auf 340 Grad zu halten, erzählt Thomas. „Ein paar Meter fuhr er noch mit und erklärte uns das Ruder“, erinnert sich Abrham. „Dann sprang er ins Wasser und schwamm zurück an den Strand.“ Und die Flüchtlinge waren allein im Mittelmeer: 105 Menschen, darunter 38 Frauen und mehrere Säuglinge, von Menschenschmugglern gewinnbringend hineingequetscht in ein zehn Meter langes Schlauchboot mit schwachem Motor. Zum Glück reichte die Energie des Satellitentelefons für den rettenden Anruf bei „Don Muse“, einem „irgendwo in Italien“ lebenden eritreischen Geistlichen. „Er fungiert regelmäßig als Mittelsmann zur Küstenwache“, erzählt Thomas und setzt sich neben Abrham auf die warme Steinbank vor der Inselkirche.

Obwohl es fast ein Uhr nachts ist, ist der Kirchplatz in der Hand schreiender, Fußball spielender Kinder. Mit Jacken haben sie vor den Stufen zur Kathedrale ein Tor markiert. Mehrere Scheinwerfer, montiert neben Ave-Maria-Bannern auf den umliegenden Privathäusern, verleihen dem Platz eine rotgelbe Künstlichkeit. Plötzlich rollt der Fußball zu Thomas. Er zögert kurz und tritt den Ball mit einem verhaltenden Lächeln zurück zu den italienischen Kindern. Eigentlich ist er nicht scheu, aber er fürchtet, „den Menschen hier lästig werden zu können“.

Als der Papst Anfang Juli Lampedusa besuchte, sind viele Italiener wieder auf die nur 20 Quadratkilometer große Mittelmeerinsel aufmerksam geworden, die geografisch und architektonisch Afrika so viel näher ist als Europa. Die Geschäftsleute der Via Roma dankten es dem Pontifex mit Transparenten: „Grazie, Papa Francesco. Lampedusa te ama.“ Die raren Sandstrände sind meist überfüllt. Kompakt hängen hunderte Besucher unter einem Himmel bunter Sonnenschirme, eingefasst von aufragenden, scharfkantigen Felsen.

Dort oben sitzen Mohammed, Abdallah und Khalid. Sie beobachten das Strandleben aus einiger Entfernung. Die somalischen Jugendlichen sind vor 14 Tagen hier gelandet. Ihre Geschichte klingt allzu bekannt: Sie sind in Libyen in einem überfüllten Schlauchboot aufgebrochen und von der italienischen Küstenwache auf offener See aufgenommen worden. Allerdings haben sie 100 Dollar mehr bezahlt als die Eritreer. Je nach „Broker“ und Beschaffenheit des Schiffes schwanken die Preise. Bei Holzbooten sind sie in der Regel vierstellig.

Dann siegt das türkisfarben glitzernde Wasser der Bucht über die Zurückhaltung der drei Männer. Mohammed und seine Freunde ziehen ihre Hosen aus, klettern in Unterwäsche den Felsen hinunter und springen lachend in die warme See. In Strandnähe heben sie sich gegenseitig aus dem Wasser und wirbeln durch die salzige Luft. Zurück am Ufer posiert ein Familienvater zwischen ihnen, seine Frau macht ein Foto mit ihrem Smartphone. Dass sich die Migranten derzeit einigermaßen frei auf Lampedusa bewegen dürfen, entspannt die Atmosphäre, ist aber nicht mehr als eine lockere Leine. Wohin sollten sie schon verschwinden?

Das Flüchtlingscamp und die Beamten seien „in Ordnung“. Ohnehin sei nichts vergleichbar mit der rassistischen Gewalt, die sie in Libyen erlebt hätten. „Wir fühlten uns wie Ratten, die den Katzen entkommen müssen“, erinnert sich Abrham und kramt Passfotos hervor. Sie zeigen seine Frau und die zwei Söhne, die auf ihn warten. „Wenn ich es einmal geschafft habe, ich meine, wenn ich einmal reich bin“, sagt Abrham, „dann möchte ich mit ihnen nach Eritrea zurückkehren“ und einen Dokumentarfilm drehen. „Sahara-Flowers“ soll er heißen. Dafür möchte er seine Odyssee wiederholen: „Eritrea, Sudan, Libyen, Lampedusa.“

Ein Geländewagen mit Uniformierten fährt vor. „Geht mal zurück ins Lager jetzt!“, ruft einer. Auf dem Kirchplatz erlöschen kurz darauf die Scheinwerfer, im Hauptquartier der Küstenwache aber gehen sie an. Beamte in Shorts und Polohemden streifen sich im Gehen ihre Guardia-Costiera-Westen über. Sie haben einen Anruf erhalten.

Alexander Stein

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