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Erinnerung. Barbara John mit Mustafa, dem Bruder des ermordeten Mehmet Turgut.

© dpa

NSU-Opfer: Wunden, die Zeit nicht heilt

Sie verloren nicht nur Ehemänner, Brüder, Väter, sondern danach auch Freunde. Angehörige der NSU-Opfer erzählen jetzt in einem Buch über ihre Erfahrungen.

Adile Simsek ist seit Montag Deutsche. Genauer: Sie ist jetzt auch deutsche Staatsbürgerin. Als Deutsche gefühlt hat sie sich auch vorher, sagt sie, der deutsche Pass – sie konnte die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft nutzen – habe deshalb für sie vor allem praktische Bedeutung.

Dass sie das sagt, ist nicht selbstverständlich. Adile Simsek ist die Witwe von Enver Simsek. Der Blumengroßhändler aus Hessen wurde am 9. September 2000 in Nürnberg das erste Opfer des Terrornetzes NSU, einer von zehn Toten. Wie die Familien der späteren Opfer verloren die Simseks nicht nur den Ehemann und Vater, sondern auch Freunde, Ansehen, Halt – weil die Polizei alles tat, die Schuld bei angeblichen kriminellen Verwicklungen der Opfer zu suchen. „Mein Vater ist als Drogendealer gestorben“, sagt vorn auf dem Podium Simseks Sohn Abdulkerim. „Erst elf Jahre später wurde er als Opfer anerkannt.“ Und Gamze Kubasik, deren Vater Mehmet der NSU im April 2006 ermordete, sagt: „Wir waren Opfer, denen man nicht glaubte.“

"Nicht ewig Opfer sein"

Die Kubasiks, die Simseks und Verwandte des 2004 in Rostock ermordeten 25-jährigen Mehmet Turgut sind an diesem 4. November nach Berlin gekommen, um ein Buch vorzustellen, in dem sie ihr Leben nach den Morden erzählen und dessen Vorwort die Bundeskanzlerin geschrieben hat. Es ist der Tag, an dem vor drei Jahren der NSU sich selbst enttarnte, von dem aus klar wurde, welches Unrecht ihnen und ihren Vätern, Brüdern und Partnern jahrelang widerfahren war. Der Titel „Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen“ klinge womöglich zu rückwärtsgewandt, sagt Barbara John, die das Buch herausgegeben hat. Berlins langjährige Integrationsbeauftragte, die seit 2012 als Ombudsfrau der Bundesregierung für die Angehörigen arbeitet, betont, die Opfer, um die es gehe, seien jetzt nicht mehr „ohnmächtig und ausgeschlossen, sondern handlungsfähig.“

Wie wichtig es dafür war, dass die NSU-Verbrechen schließlich erkannt und anerkannt wurden, schildert etwa Gamze Kubasik im Buch: Jahrelang habe sie keinen Fuß in die Straße setzen können, in der ihr Vater starb. „Erst seit der Gedenkstein dort liegt, traue ich mich wieder dorthin.“ Sie spüre „eine Last von meinen Schultern fallen“ und sehe Zukunft für sich. „Ich will nicht ewig Opfer sein.“ Auch Adulkerim Simsek spricht von „der Last, die wir alle mit uns herumtragen und die wir loswerden möchten“. 

NSU-Bericht wird ignoriert

Das Buch macht auch klar, dass das nicht allen möglich sein wird. Sie habe ihr „eigenes Herz schon begraben“, resümiert Gamzes Mutter Elif. Deutschland, noch immer Heimat, sei eine schmerzliche Heimat geworden. Sie sei fünfzig, „eigentlich nicht so alt“, aber sie habe nur noch Wünsche für ihre Kinder, nicht mehr für sich. So gebrochen, sagt die Journalistin Vera Gaserow, die die Erinnerungen für das Buch aufgezeichnet hat, seien die meisten Angehörigen aus Elif Kubasiks Generation.

Während die Familien den Münchner NSU-Prozess verfolgen und sich von ihm, halb skeptisch, die Wahrheit über den Terror erwarten, zieht Barbara John eine eigene bittere Bilanz: Das Zögern etlicher Länderparlamente, eigene NSU-Ausschüsse einzusetzen, Verfassungsschutzämter, die weiter ihre V-Leute abschirmten, und Länderpolizeien, die „taub auf beiden Ohren“ die Empfehlungen des NSU-Berichts im Bundestag ignorierten. „Trauer und Scham der Politik“, sagt John, „helfen nicht, wenn die Politik die Funktionseliten nicht kontrollieren kann.“

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