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Abdul Kerim Simsek, Sohn von NSU-Opfer Enver Simsek, neben Anwältin Seda Basay-Yildiz.

© imago/Sebastian Widmann

NSU-Prozess: Der Horror ist so nah, dass es schmerzt

Im NSU-Prozess schildert die Anwältin der Familie Simsek am Dienstag das Leid der Angehörigen. "Vorurteile beherrschten die Polizeiapparate", sagt sie.

Von Frank Jansen

Sie spricht mit einer klaren, nüchternen Stimme, als würde sie im Fernsehen Nachrichten verkünden. Kein schriller Ton, keine Kunstpausen, um bei den Zuhörer Emotionen zu schüren. Und doch ist das Plädoyer, das Anwältin Seda Basay-Yildiz am Dienstag vorträgt, wieder ein besonders bedrückender Moment im NSU-Prozess. Die Juristin schildert detailliert, wie ihre Nebenklage-Mandanten, die Familie des von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos erschossenen Enver Simsek, von der Polizei drangsaliert wurden. Die Worte hängen bleiern im Saal A 101 im Oberlandesgericht München. Der Horror der Tat und der Horror der Ermittlungen sind den Zuhörern so nah, dass es schmerzt.

Adile Simsek, die Ehefrau des Opfers, habe am Tag der Tat, dem 9. September 2000, zu ihrem sterbenden Mann fahren wollen, sagt Basay-Yildiz. Enver Simsek lag im Klinikum Nürnberg. Die Polizei war dagegen, doch die Frau fuhr. Im Krankenhaus konnte sie zu ihrem schwer verletzten Mann, doch nach einigen Stunden brachten Polizisten sie zur Vernehmung auf ein Revier.

Anstatt weiter im Klinikum bei ihrem sterbenden Enver sein zu können, sei Adile Simsek mit ersten Fragen zu einer angeblichen Schutzgelderpressung konfrontiert worden, sagt die Anwältin. Adile Simsek sitzt im Saal. Und ihr Sohn. Unter der Tribüne, auf der die Journalisten und Zuschauer sitzen. Auch wenn die Beobachter die beiden nicht sehen, ist unschwer zu vermuten, wie es ihnen beim Plädoyer ihrer Anwältin geht.

Die Hinrichtung von Enver Simsek, der in Nürnberg an einer Ausfallstraße von einem Transporter aus Blumen verkaufte, war der erste von zehn Morden des NSU. Hinweise auf ein Motiv gab es, wie bei den anderen Tötungsverbrechen, keine. Basay-Yildiz schildert, wie die Polizei dennoch Adile Simsek immer wieder mit Fragen nach Drogen, nach Schutzgelderpressung und nach einer angeblichen Geliebten ihres Mannes bedrängte. „Es wird ihr das Foto einer fremden Frau gezeigt und gesagt, das sei Envers Freundin gewesen“, sagt die Anwältin. Die Ehefrau habe geantwortet, das könne sie sich nicht vorstellen, ihr Mann und sie hätten sich geliebt.

"Ein rassistisches Motiv war nicht denkbar"

Die Polizei fragte dennoch monatelang weiter nach einer Geliebten. Bei den Vernehmungen hätten Beamte auch behauptet, Enver Simsek habe Kontakt zu Drogenhändlern unterhalten, trägt Basay-Yildiz vor. Er solle Streckmittel für Rauschgift transportiert haben. Adile Simsek habe einen Weinkrampf bekommen, berichtet die Anwältin. Und sie erwähnt, dass das Handy der Witwe monatelang abgehört wurde. Auch zum Zeitpunkt der Beerdigung von Enver Simsek in seinem Heimatdorf in der Türkei.

Basay-Yildiz bestreitet nicht, dass bei Ermittlungen zu einem Mord mit unklarem Hintergrund die Polizei die Familie des Opfers in den Blick nehmen muss. Aber die Anwältin kritisiert, dass nicht auch in andere Richtungen ermittelt wurde. Wie bei den weiteren acht Morden des NSU an Migranten. „Vorurteile beherrschten die Polizeiapparate so, dass ein rassistisches Motiv nicht denkbar war“, sagt Basay-Yildiz.

Beate Zschäpe und die vier Mitangeklagten blicken starr in den Saal. In den Pausen redet Zschäpe, wie schon bei vorangegangenen Plädoyers von Opferanwälten, gestikulierend auf Verteidiger Mathias Grasel ein. Ob die Angeklagte womöglich doch berührt ist und ins Nachdenken kommt, bleibt offen.

Viel Zeit für eine erweiterte Aussage bliebe nicht, der Prozess nähert sich dem Urteil. Die Plädoyers der Nebenkläger, deren Fragen sich Zschäpe seit jeher hartnäckig verweigert, sind kurz vor dem Ende. Schon bald dürften die Schlussvorträge der Verteidiger Zschäpes und der weiteren Angeklagten folgen. Wann genau, ist jedoch unklar. Am Dienstag bricht der Vorsitzende Richter Manfred Götzl die Verhandlung mittags ab. Der Angeklagte Ralf Wohlleben hat Rückenprobleme.

Die Ohnmacht der Angehörigen. Unser Redakteur Armin Lehmann hat sich mit Kerim Simsek getroffen. Lesen Sie hier seine Reportage.

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