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Keine Freunde: Generalstabschef Isik Kosaner (vorne links) und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan (vorne rechts).

© AFP

Update

Machtkampf mit Erdogan: Neuer Armeechef, neue Ära

Die politische Führung in Ankara hat schnell entschieden: Necdet Özel, Chef der paramilitärischen Gendarmerie, soll Armeechef werden. Der Rücktritt ranghoher Militärs ist eine Zäsur in der Geschichte der Türkei.

Nach dem Kollektiv-Rücktritt der türkischen Armeeführung hat die politische Führung am Samstag rasch gehandelt, um ein Vakuum an der Militärspitze zu verhindern und die Streitkräfte langfristig einer stärkeren politischen Kontrolle zu unterwerfen. Nur wenige Stunden nach den Rücktrittsgesuchen des Generalstabschefs und der Kommandanten von Heer, Marine und Luftwaffe ernannten Regierung und Staatspräsident einen designierten neuen Armeechef. „Alles geht seinen Gang“, sagte Gül. Das allerdings ist stark untertrieben: Was sich in Ankara abspielt, ist nach Ansicht von Beobachtern ein entscheidendes Kapitel im langen Machtkampf zwischen gewählten Politikern und den auf ihre traditionelle Rolle pochenden Generäle. Necdet Özel, 61, bisheriger Chef der paramilitärischen Gendarmerie, wurde noch am Freitagabend im Schnellverfahren zum Heereschef und stellvertretenden Generalstabschef ernannt. Nach einer gesetzlich vorgeschriebenen Schamfrist von 24 Stunden sollte Özel offiziell neuer Generalstabschef werden. Özel war zwar ohnehin für den Posten vorgesehen – aber erst in zwei Jahren. Nun kommt er früher an die Spitze der zweitstärksten Nato-Streitmacht. Diese Karrieresprünge im Rekordtempo hat der designierte neue Militärchef der Regierung zu verdanken, und nicht den Traditionen der militärischen Nomenklatura, wie das bei seinen Vorgängern stets der Fall war: Diese Tatsache dürfte in den kommenden Jahren das Verhältnis zwischen Militärs und Regierung zugunsten der Politiker prägen. Der bisherige Generalstabschef Isik Kosaner und die drei anderen Kommandeure haben mit ihren überraschenden Rücktritten eine neue Ära eingeleitet. Viele Beobachter werten den Massenrücktritt als Eingeständnis einer Niederlage der Generäle im Machtkampf mit der politischen Führung. „Es handelt sich um einen ganz normalen Vorgang im Rahmen der De-Militarisierung der Türkei“, sagte der Istanbuler Politikwissenschaftler Cengiz Aktar am Samstag dem Tagesspiegel. „Die Militärs müssen der gewählten Regierung gehorchen, so wie das in jedem zivilisierten Land geschieht.“ Auch der angesehene Kolumnist Murat Yetkin urteilte, die Rücktritte seien eine Botschaft der Resignation der Militärs. Das Signal an die Regierung laute: „Wenn ihr die Armee unbedingt unter eure Fuchtel bekommen wollt, dann macht mal.“ Bei der Konfrontation zwischen Militärs und Politikern habe die Armee zurückstecken müssen, unterstrich Yetkin. Dabei hatten sich die Generäle über Jahrzehnte als wahre Herren der Türkei betrachtet, an die sich kein Politiker heranwagte. Vier Regierungen wurden seit 1960 von den Militärs von der Macht verdrängt. Die EU fordert seit Jahren eine stärkere Unterwerfung der Militärs unter die Politik. Dieser Prozess hatte im Zuge demokratischer Reformgesetze in den vergangenen Jahren begonnen – nun erreichte er einen neuen Höhepunkt. Die Politik bemühte sich, alle Triumphgefühle zu unterdrücken. Man habe General Kosaner gebeten zu bleiben, beteuerte Gül. „Aber er entschied sich anders“. Im Übrigen sei die Türkei ein Rechtsstaat mit funktionierender Gewaltenteilung. Will heißen: Die Regierung regiert, nicht die Militärs. Die Türkei werde sich mit „Respekt“ an die Zurückgetretenen erinnern, ließ Erdogan kühl erklären. Aufhalten wollte er Kosaner offensichtlich nicht. Nun wollen Erdogan und Gül um den neuen Generalstabschef Özel herum eine neue Militärführung aufbauen. Die wichtigsten Entscheidungen dazu werden in den kommenden Tagen bei einer planmäßigen Sitzung des Hohen Militärrats fallen. Diese Sitzung war der Auslöser für den Kollektiv-Rücktritt: Erdogan wollte keine Beförderungen von Offizieren akzeptieren, die unter dem Verdacht einer Beteiligung an Putschvorbereitungen gegen seine Regierung stehen. General Kosaner wollte unter diesen Bedingungen nicht im Amt bleiben. Insgesamt stünden 250 amtierende und pensionierte Offiziere wegen Putschvorwürfen vor Gericht, erklärte er in seiner Abschiedsbotschaft an die Truppe. Nur wenige Stunden vor den Rücktritten hatte ein Istanbuler Gericht die Anklage gegen 22 weitere Soldaten angenommen, die Websites zur Verbreitung regierungsfeindlicher Propaganda eingerichtet haben wollen. Immer wieder habe er sich bei der Regierung über das Vorgehen der Justiz beschwert, die das Militär als „kriminelle Organisation“ hinstellen wolle, beklagte Kosaner. Doch die Regierung sei untätig geblieben. Dass den Offizieren keine Kleinigkeiten vorgeworfen werden, sondern Umsturzversuche gegen die demokratisch legitimierte Regierung, erwähnte Kosaner nicht.

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