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Politik: Was sind uns die Alten wert?

„Die Pflege ist ein größeres Tabu als der Tod“, sagt ein Kenner. Die Diskussion über die Reform der Sozialversicherung geht in die entscheidende Runde – Millionen Menschen warten darauf

Dass sein Vater derart hilfebedürftig werden könnte, war für Arno Geiger unvorstellbar. „Als Kind hält man die Eltern für stark, sie haben das Leben im Griff und übernehmen Verantwortung. Ich habe nicht wahrhaben wollen, dass mein Vater schwächer wird“, sagt der 43-Jährige heute. Dabei waren die Krankheitsanzeichen schon längst unübersehbar. Der Vater wurde vergesslicher, antriebslos, deponierte seine Socken im Kühlschrank. Zehn Jahre ist es her, dass er und seine Geschwister die Augen vor der Realität nicht mehr verschließen konnten und sich eingestanden haben: „Mensch, der Vater ist dement.“

Darüber, wie sein Vater die Erinnerung verliert, hat Arno Geiger ein Buch geschrieben. Das Thema ist schwierig, und doch ist „Der alte König in seinem Exil“ zu einem Riesenerfolg geworden. Vermutlich, weil der österreichische Schriftsteller nicht nur beschreibt, wie sich zwischenzeitlich alles nur noch um den Vater dreht, sondern auch, wie sich sein „düsteres“ Bild von der Alzheimerkrankheit verändert hat. Es ist ein liebevolles Porträt des Vaters, keine Abrechnung. Ist es möglich, trotz Pflegebedürftigkeit in Würde zu altern? Ja, findet Geiger.

Für ihn bedeutete die Demenz seines Vaters, zu einem Zeitpunkt Verantwortung zu übernehmen, an dem er nicht damit gerechnet hatte. „Damals war ich überfordert. Ich musste alles über Bord werfen. Die Machtverhältnisse in der Familie, die Zuständigkeiten, alles musste völlig neu definiert werden. Ich hatte Angst, dass ich mir Lebenschancen verbaue.“

Wer wird uns in Zukunft pflegen, wer wird dafür bezahlen? Darüber werden Politiker aller Parteien in den nächsten Monaten verstärkt streiten. In der kommenden Woche will Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) seine Pläne für eine Pflegereform vorstellen. Dabei sind sie sich in der Regierung noch nicht einmal einig, ob die Beiträge zur Pflegeversicherung steigen müssen oder nicht – und ob man alle Bürger verpflichten soll, auch privat für den Pflegefall vorzusorgen.

Die Frage, was uns die Pflege alter Menschen wert sein sollte, ist bei dem Detailgerangel aus dem Blick geraten. Dabei ist eines absehbar: Pflege wird stärker als bisher zu unserem Alltag gehören. Die Lebenserwartung steigt – und damit auch der Anteil derer, die im Alter auf Hilfe angewiesen sind. Das Statistische Bundesamt rechnet für 2030 bereits mit 3,4 Millionen Pflegebedürftigen, heute sind es 2,3 Millionen. Und mit der zunehmenden Zahl von Hochbetagten steigt auch das Risiko von Demenzerkrankungen, die besonders intensive Betreuung erfordern. Heute leben in Deutschland 1,2 Millionen Altersverwirrte, in 20 Jahren dürften es 1,8 Millionen sein.

Dabei hat sich viel getan. Noch im vorigen Jahrhundert gehörte die Pflege zur kommunalen Armenfürsorge, erklärt Professor Gerd Naegele. Er ist Direktor des Instituts für Gerontologie an der Universität Dortmund und hat für die Bundesregierung an mehreren Altenberichten mitgearbeitet. Aus dem „Ruch der Armenfürsorge“, sagt der Wissenschaftler, sei die Pflege erst richtig mit der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 herausgekommen. Davor galt: Wer nicht genügend Geld hatte, wurde zum Sozialhilfefall. Erst durch die neue Absicherung wurde die Pflege deutlich aufgewertet und professionalisiert – als soziale Dienstleistung und als Beruf.

Heute ist sie wieder weniger wert. Weil die Leistungen nicht angehoben wurden, die Preise aber stiegen. Selbst der Erfinder der Versicherung, der frühere Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU), hält es inzwischen für einen Fehler, dass man damals auf eine automatische Anpassung verzichtet hatte. Nicht berücksichtigt wurde zudem, dass Demenzkranke besondere Betreuung benötigen. Und viele Angehörige fühlen sich immer noch allein gelassen, wenn der Tag x kommt, an dem sie sich kümmern müssen.

Über Gebrechlichkeit denkt keiner gern nach. „Die Pflege ist ein größeres Tabu als der Tod“, sagt der Journalist Werner Neumann (Name geändert). Als „Anonymus“ hat er ein Buch über seine Verzweiflung am deutschen Pflegesystem geschrieben. „Wohin mit Vater?“, fragten er und seine Schwester sich nach dem Tod der über 80-jährigen Mutter, die bis zuletzt den Vater gepflegt hatte. Und merkten, dass es darauf keine einfache Antwort gab. „Auf den Tod der Eltern waren wir gut vorbereitet. Die beiden hatten einen Aktenordner, da war sogar die fertig formulierte Todesanzeige drin. Bloß über die Pflege haben wir nicht geredet.“ Warum ist das so schwergefallen? „Mit dem Tod ist alles zu Ende. Doch wenn jemand zum Pflegefall wird, greift das gewaltig ins Leben der erwachsenen Kinder ein. Man muss alles komplett umstülpen.“

Ginge es nach den Betroffenen, würde kaum jemand im Heim gepflegt – Umfragen zufolge wünschen sich das gerade mal fünf Prozent. Tatsächlich aber landen dort immer mehr Menschen. Ihre Zahl stieg in den vergangenen zehn Jahren um knapp 28 Prozent, die der Zuhause Versorgten nur um ein Zehntel. Es gibt einen eindeutigen Trend zu mehr professioneller Pflege. Und die ist teuer. Während pflegende Angehörige für die leichten Fälle monatlich gerade mal 225 Euro erhalten, gibt es für ambulante Dienste 440 Euro und fürs Heim 1023 Euro. Noch werden zwei Drittel der Pflegebedürftigen Zuhause versorgt, die meisten ohne fachliche Hilfe. Diese Leistung würde, von Profis erbracht, 75 Milliarden Euro kosten, hat der Sozialverband VdK ausgerechnet. Familien sind der größte und preisgünstigste Pflegedienst der Nation. Nicht auszudenken, wenn er wegfiele. Das deutsche Pflegesystem wäre unbezahlbar.

Das weiß die Politik, und nicht zuletzt deshalb steht die Förderung häuslicher Pflege in ihrer Agenda ganz oben. Denn für viele ist sie, unter den gegenwärtigen Bedingungen, kaum noch machbar. Immer mehr Frauen – sie stellen drei Viertel der privat Pflegenden – sind berufstätig. Immer weniger Erwachsene leben mit ihren Eltern noch unter einem Dach. Und mit dem Alter der Pflegebedürftigen steigt auch das der für die Pflege infrage kommenden Kinder. Im Schnitt sind sie selbst bereits um die 60, wenn ihre Eltern Hilfe brauchen – und mit dem Pflegen oft schon körperlich überfordert.

Allerdings ist an der Rechnung, dass die Pflege durch Angehörige das Günstigste ist, auch einiges schief. Der Preis ist höher als von der Pflegeversicherung in Euro ausgewiesen. Pflegende geben ihren Job auf und kommen später oft nicht wieder rein. Die Aufgabe Zuhause kostet sie Rentenansprüche, soziale Kontakte, Nerven – und nicht selten auch die Gesundheit. Nach einer Analyse der Siemens-Betriebskrankenkasse erkranken sie weit öfter als der Rest der Bevölkerung. Jeder sechste Pflegende leidet unter Depressionen, dreieinhalb Mal so viele wie im deutschen Schnitt.

Auch für die alten Menschen ist häusliche Versorgung nicht immer das Beste. In einer Umfrage der Polizei-Hochschule in Münster gaben 53 Prozent der pflegenden Angehörigen zu, gegenüber ihren Schützlingen in den vergangenen zwölf Monaten mindestens einmal gewalttätig geworden zu sein. In den Heimen gebe es eher „strukturelle Misshandlung“, sagt der Bonner Gerontopsychiater Rolf Dieter Hirsch, „die größten Grausamkeiten aber finden im häuslichen Bereich statt.“ Dabei lässt sich oft nicht klar auseinanderhalten, wer Opfer und wer Täter ist. Auch Pflegebedürftige haben ihre Machtmittel. Sie schreien, schlagen, koten sich ein. Und erschwerend hinzu kommt bei der häuslichen Pflege ein eigenartiges Phänomen: Fast immer wird sie von denen übernommen, die das angespannteste Verhältnis zu dem Elternteil haben. „Schuldgefühle spielen eine große Rolle“, sagt der Psychiater. Daraus entstehe Erwartungsdruck, Überlastung, Zorn aufeinander. „Und oft werden alte Rechnungen beglichen.“

Hirsch ist Experte für solche Dinge. Unter dem Namen „Handeln statt Misshandeln“ hat er vor 14 Jahren eine Initiative gegen Gewalt im Alter gegründet. Was helfen könne, seien Auszeiten, sagt er. Und professionelle Unterstützung. Krisentelefone, Beratungsstellen, soziale Vernetzung. Auch im eigenen Interesse müsse man die Pflegenden zum kontinuierlichen Besuch von Angehörigengruppen bringen. Notfalls auch mit finanziellem Anreiz. Und damit häusliche Pflege nicht nur stattfindet, weil man sich das Heim nicht leisten kann, müsse es für beides gleich viel Geld geben.

Die große Herausforderung für die nächste Pflegereform, sagt deshalb der Dortmunder Gerontologe Naegele, sei, den weit verbreiteten Wunsch nach häuslicher Versorgung und nach selbstständigem Wohnen zu erfüllen. Denn wer heute den Eltern ermöglichen will, bis zum Tod in der gewohnten Umgebung zu bleiben und es nicht schafft, die Pflege überwiegend selbst zu leisten, stößt schnell an Grenzen. Als der Journalist Neumann für seinen Vater eine 24-Stunden-Betreuung bei einem ambulanten Pflegedienst organisieren wollte, stellte er fest, dass das 10 000 Euro im Monat kosten würde. Seine Schwester und er entschieden sich für die Illegalität – wie bis zu 150 000 Haushalte in Deutschland. Sie engagierten eine Krankenschwester aus Polen, die beim Vater einzog und ihn für 1400 Euro monatlich pflegte – in Schwarzarbeit. „Bis zum Tod meines Vaters blieb der Schatten dieses kriminellen Aktes über uns hängen. Wir hatten Angst, dass wir auffliegen könnten“, erzählt der 63-Jährige. Dass sie diesen Weg gewählt haben, bedauert er aber nicht. „Ja, ich habe kriminell gehandelt, aber ich habe nicht das geringste Unrechtsbewusstsein. Ich habe für meinen Vater etwas Gutes getan“, sagt er. Mittlerweile können Privatpersonen legal osteuropäische Hilfen anheuern – offiziell allerdings nur zur Unterstützung im Haushalt, nicht für die Pflege. Es ist eine Art unausgesprochene Übereinkunft, dass Behörden und Politik nicht so genau hinsehen.

Der Schriftsteller Geiger hat vor gut zwei Jahren mit seiner Familie entschieden, nach jahrelanger Betreuung Zuhause den Vater doch noch in ein Heim zu geben. „Die Konvention verlangt, dass man ein schlechtes Gewissen bekommt“, sagt er. Er findet jedoch, dass es ein berechtigtes Anliegen ist, sich nicht aufzuopfern, alles der Pflege unterzuordnen. „In den letzten Monaten, die mein Vater zu Hause gewohnt hat, waren alle gestresst. Da war auch er nicht glücklich.“ Es sei gut, dass nun im Pflegeheim professionelle Kräfte Dinge wie die Körperhygiene und das Füttern übernehmen. „Dann bin ich auch gerne bereit, mit ihm spazierenzugehen und zu reden.“

Bei Claus Fussek ist es die Mutter. Auch der wohl bekannteste Pflegekritiker Deutschlands hat nun einen Pflegefall in der Familie. Tagsüber wird seine demente Mutter von einer Krankenschwester betreut, die Nächte teilt sich der 58-Jährige mit den Geschwistern. Für den Sozialpädagogen heißt das: Nach der Arbeit ins Auto, 60 Kilometer von München nach Lenggries. „Ich bete jeden Tag, dass die Pflegerin nicht ausfällt“, sagt er. Die Panikattacken der Mutter, mitten in der Nacht, setzen ihm zu. Doch sie in ein Heim geben? Kein Thema.

Dabei kennt er auch die guten. Doch die sind, aus seiner Sicht, eher die Ausnahme. Fusseks Arbeitsplatz in der Münchner Klenzestraße ist vollgestopft mit Aktenordnern. Weit mehr als 40 000 Anrufe, E-Mails und Briefe hat er in den vergangenen 15 Jahren von verzweifelten Angehörigen und Pflegekräften erhalten. Die meisten stammen übrigens nicht von den Opfern übler Pflege, sondern von den Ausführenden – die selbst auch wieder Opfer sind. Überfordert, unterbezahlt, frustriert, mit chronisch schlechtem Gewissen, weil sie sich nicht so um die alten Menschen kümmern können, wie sie wollen und es auch gelernt haben. Sondern sie abfertigen müssen, sich behelfen mit Bettgurten, Magensonden, Psychopharmaka. Der Heim- und Pflegealltag in Deutschland – in Fusseks Hinterhof- Büro ist er aufs Erschreckendste dokumentiert.

Kritikern wie Fussek ist es zu verdanken, dass die 11 600 Heime inzwischen schärfer kontrolliert werden. Seit Mitte 2009 kommen die Prüfer vom Medizinischen Dienst der Kassen unangemeldet. Und die Ergebnisse müssen veröffentlicht werden – im Internet und per Aushang im Heim. Doch die meist prächtigen Gesamtnoten des ersten Prüfdurchgangs fußen vor allem auf Speiseplänen, Hauswirtschaft und Hygiene. K.-o.-Kriterien gibt es immer noch nicht. Selbst wenn Heimbewohner mangelernährt oder medizinisch schlecht versorgt sind – mit Tischschmuck und netten Weihnachtsfeiern lässt es sich überdecken.

Satt-Sauber-Pflege im Minutentakt, das einsame Dahindämmern in seelenlosen Zweckbauten: Immer mehr Menschen wehren sich dagegen. Und wollen auch nicht mehr wegsehen. Eine Bundesinitiative „Daheim statt Heim“, unterstützt von einer halben Million Bürgern, fordert einen Baustopp für neue Heime. Den demografischen Wandel mit immer mehr Pflegeheimen und Profikräften beantworten zu wollen, sei grundfalsch, sagen sie auch beim Netzwerk „Soziales neu gestalten“, wo der frühere SPD-Chef Franz Müntefering mitmischt. Es gehe um Pflegevermeidung, in einem menschlichen Lebensumfeld, mittendrin in der Gesellschaft. Altengerechte Wohnungen, bürgerschaftliches Engagement, generationenübergreifende Projekte, Prävention und Rehabilitation. Die Kommunen müssten sich für ihre Alten zuständig fühlen, mahnt Müntefering. Bürgermeister, Ärzte, Nachbarn, jeder einzelne. „Für meine Mutter“, sagt Fussek, „ist nicht der Gesundheitsminister verantwortlich.“

Für Arno Geiger ist es selbstverständlich geworden, Verantwortung für den Vater zu übernehmen. „Das, worauf ich verzichten muss, ist bedeutungslos im Vergleich zu dem, was ich bekommen habe. Kein Besuch ist umsonst“, sagt er. Der Autor findet es falsch, dass Demenz mit Verkalkung oder Verblödung gleichgesetzt wird. „Mein Vater ist zunehmend verwirrt, aber er greift momenthaft immer wieder auf seine Intelligenz zurück und bildet ganz erstaunliche Sätze“, erzählt Geiger, der solche Momente großartig findet. Er jedenfalls sieht dem eigenen Alter gelassener entgegen. „Man kann besser mit etwas umgehen, was man sieht, als mit etwas, was nur in einem rumort. Je diffuser etwas bleibt, desto mehr Platz ist für Ängste.“

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