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Gianni Infantino ist seit Februar 2016 Präsident des Weltfussballverbands - und nicht jedem gefällt, was er seither angestoßen hat.

© REUTERS

Neue Regeln im Fußball: Wenn Regelungswut jeden Reiz abwürgt

Der Fifa-Chef Gianni Infantino droht das Spiel der Spiele mit neuen Regeln zu zerstören - er macht sich so zum Mörder des Fußballs. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Helmut Schümann

Wer das Fußballspiel erfunden hat, ist historisch nicht so ganz geklärt. Die Welt spricht von England als Ursprungsland, weil dort Dörfer gegeneinander antraten, um einen Ball möglichst oft im gegnerischen Ort zu platzieren. Es gibt aber auch Indizien, bildliche Belege, dass so etwas Ähnliches wie ein Ballgeschubse lange zuvor in China ausgeübt wurde. Egal, das erste Regelwerk wurde in England verfasst, Ende des 19. Jahrhunderts, und, siehe da, es funktionierte.

Zwei Menschengruppen, von der Dorfgemeinschaft auf jeweils elf reduziert, messen mittels eines Balles einander an der Welt, der Menschheit, dem menschlichen Zusammenleben, ihrer Gefühle, ihrer Tragik, ihrer Erhabenheit, eine spielerische Widerspiegelung des Lebens schlechthin. Eine geniale Erfindung, ähnlich dem Schachspiel, nur weiterführend, weil sich im Fußballspiel nicht nur zwei Individuen am Lebensverständnis versuchen, sondern zwei Gemeinschaften. Beim Schach geht es nur um den Tyrannentod, den Königsmord, dass dabei die Dame die entscheidende Rolle spielt, ist eine andere, feministische Geschichte. Zu hoch gegriffen, zu pathetisch, zu aufbauschend, überhöht?

Das Spiel mit dem Ball, der so rund und rundherum gleichberechtigt geformt ist wie der Globus, umfasst die Welt. Ich habe den Globus zu Füßen, ich beherrsche ihn, ich zwinge dir, Gegner, meinen Willen auf. Und zwar auf anarchische Weise, weil der Ball, dieses luftgefüllte Wesen, bei all den technischen Fähigkeiten eines Zinedine Zidane, Diego Maradona, Pele oder wem auch immer nicht schlussendlich berechenbar ist. Man kann dieses Spiel als darwinistisch verteufeln, weil immer der Stärkere gewinnt, man kann es als archaisch, als zutiefst menschlich, loben. Wie auch immer, es fasziniert, packt die Menschen bei ihren Wurzeln, es fasst sie an.

Neue Regeln zerstören das Unkalkulierbare

Diesem Spiel der Spiele droht der Tod. Noch nicht sofort, noch nicht in der nun beginnenden neuen Saison. Aber schleichend.

Der Fußball-Weltverband Fifa, der doch eigentlich der Gralshüter sein sollte, will ihm an den Kragen. Neue Techniken zur Überwachung des Spiels sind bereits eingeführt, gravierende Regeländerungen werden diskutiert. Beim Confed-Cup, dem überflüssigem Turnier der Kontinentalmeister, wurde im Sommer erstmals der Videobeweis demonstriert. Untauglich, strittig. Und jetzt wird er auch die Bundesliga öden. Mit ihm sollen kniffelige Schiedsrichterentscheidungen korrigiert oder bestätigt werden. Ein großer Teil der Faszination dieses Sports aber liegt in seiner Emotionalität – und eben auch im Irrtum.

Der Ärger über vermeintliche Fehlentscheidungen ist demokratisch verteilt, es trifft jeden einmal. Was wäre das fußballerische Leben ganzer Generationen ohne das Wembley-Tor: Möglich, aber fade und sinnlos. Noch 20 Jahre nach seiner falschen Entscheidung im Weltmeisterschaftsfinale 1966 zwischen England und der Bundesrepublik Deutschland sagte der damalige Schiedsrichter Gottfried Dienst über den berühmtesten Irrtum der Fußballgeschichte: „Und wenn man mich jetzt einfriert und in hundert Jahren wieder auftaut, werde ich immer noch nicht wissen, ob der Ball hinter oder vor der Torlinie war.“ Wie langweilig wäre das Leben, wenn alles klar wäre. Das Geheimnis bleibt Geheimnis.

Auch wenn es inzwischen getilgt ist. Bei der Weltmeisterschaft in Südafrika 2010 wurde ein eindeutiges Tor der Engländer gegen die deutsche Mannschaft nicht anerkannt: „Wembley ist gerächt“, jubelten die deutschen Fans. Nicht fair, nicht politisch korrekt, aber gefühlig. Auch der Videobeweis stellt keine aseptische Gerechtigkeit her, schafft aber Spielunterbrechungen, die gewiss bald mit Werbung gefüllt werden.

Denn darum geht es doch. Um Geldbeschaffung, auch wenn die Fifa behauptet, sie wolle den Fußball dadurch gerechter machen. Ah, ja. Fußball ist ebenso wenig gerecht wie das Leben. Wer Fan einer Fortuna aus Düsseldorf ist – und der Autor weiß, wovon er redet – der weiß, dass da Gerechtigkeit keine Rolle spielt. Man lernt aber mit Niederlagen umzugehen. Und das ist nicht die schlechteste Erfahrung, die man im Leben machen kann. Die Niederlage und das Scheitern gehören zum Leben wie der Tod. Und auch das Aufstehen danach. „Steh auf, wenn du am Boden liegst“, sangen die „Toten Hosen“, arme Kerle, weil ebenfalls Fans der Fortuna. Aber deswegen unglücklich? Himmel hoch jauchzend – zu Tode betrübt sind elementare Lebenserspürnisse. Und die will die Fifa verhindern?

Der Coitus interruptus am Ball

Die perfideste Überlegung ist die 60-Minuten-Regel. Das Spiel soll auf 60 Minuten verkürzt werden, 60 Minuten reiner Spielzeit. Bei jedem Schiedsrichterpfiff soll die Uhr angehalten werden, um taktische Spielverzögerungen zu unterbinden. Die sind objektiv gesehen wahrlich nicht schön, subjektiv gesehen sind sie ein Gräuel für die Mannschaft und die Fans die einem Rückstand hinter her laufen, und die pure Freude für die Mannschaft und die Fans, die den Besitzstand des Vorsprungs wahren wollen. Was also wird geschehen, wenn bei jedem Pfiff, bei jedem ins Aus gespielten Ball die Uhr angehalten wird? Auf den Rängen wird ein kollektives Aufstöhnen einsetzen, weil der Rausch der Leidenschaft immer wieder abgebremst wird, ein Coitus interruptus am Ball. Und vor den Fernsehgeräten wird in diesen Momenten Werbung eingeblendet, man kennt dergleichen aus amerikanischen Sportarten.

Gianni Infantino ist Chef der Fifa. Er löste den verbrecherischen Josef Blatter ab, der der Korruption im Fußball Tür und Tor öffnete. Man hatte kurz die Hoffnung, dass der Neue den Verband reformieren könnte. Nach Lage der Dinge ist Infantino der noch schlimmere Verbrecher. Er wird, kommt er mit seinen Plänen durch, als Mörder des Fußballs in die Annalen eingehen.

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