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Gesellschaft: Was ist Familie heute?

Sie ist vielfältiger geworden. Und schwieriger. Schon oft wurde sie zum Auslaufmodell erklärt. Dabei bleibt sie für viele unverzichtbar. An Festtagen spürt man das besonders.

Von Patricia Wolf

WAS WAR FAMILIE FRÜHER?

Doch ja, es gibt ihn noch. Den Familienvorstand alter Schule, wie ihn beispielsweise Thomas Mann in den Buddenbrooks mustergültig beschrieb. Louis van Gaal, der Trainer des FC Bayern, ist einer von ihnen: Er lässt sich von seinen Töchtern mit Sie anreden. Und findet das ganz normal, schließlich sei er eine Respektsperson. Den meisten von uns erscheint das nicht ganz so normal, es kommt im Gegenteil ziemlich überholt daher. Schließlich ist Familie weniger mit der Vorstellung einer Herrschafts- denn mit einer Liebesbeziehung verbunden.

Das war in der Vergangenheit nicht immer so. Familie war bis tief in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein eine Form des Zusammenlebens, die weit mehr von wirtschaftlichen als sozialen Bindungen geprägt war. Das steckt auch im Ursprung des Begriffs Familie, der dem Lateinischen entstammt. Abgeleitet von famulus (der Haussklave), bezeichnete er den Besitzstand eines Mannes, des pater familias. Zu seinem Besitz gehörten freilich nicht nur Weib und Kinder, sondern gleichermaßen Vieh und Sklaven.

Die traditionelle Familie, wie wir sie kennen, ist wie die Liebesheirat eine Erfindung des Bürgertums im 19. Jahrhundert. Sie bildete sich als das klassische Modell in dem Maße heraus, in dem mit der fortschreitenden Industrialisierung Kinder nicht mehr als Arbeitskräfte herangezogen wurden. Mehr und mehr entwickelte sich ein Muster, das auf traditioneller Rollenverteilung basiert: Der Vater ist Ernährer der Familie und somit für den außerhäuslichen Bereich zuständig. Er verdient das Geld und kümmert sich um die sozialen Kontakte. Seiner Ehefrau, die keiner Berufstätigkeit nachgeht, obliegt die Sorge für den innerfamiliären Bereich. Dazu gehören das gemütliche Heim und die Erziehung der Kinder.

WIE HAT SICH FAMILIE VERÄNDERT?

Schon oft wurde die traditionelle Kleinfamilie zum Auslaufmodell erklärt. Die Fakten scheinen eindeutig: Fast jeder fünfte Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren lebte 2008 bei Mutter oder Vater, wobei der Anteil der alleinerziehenden Mütter deutlich höher ist. Das bedeutet einen Anstieg von alleinerziehenden Eltern im Vergleich zu 1996 um 37 Prozent. Dazu kommen die Jugendlichen, die innerhalb eines alternativen Familienmodells wie beispielsweise nichtehelichen Lebensgemeinschaften aufwachsen. Ihr Anteil hat sich seit 1996 um immerhin 56 Prozent erhöht.

Doch diese Fakten trügen. Noch immer werden drei Viertel aller Kinder und Jugendlichen bei Ehepaaren groß. Allerdings beinhaltet das neben der Normfamilie auch alternative Formen, zu denen neben Stief-, Adoptiv- und Pflegefamilien auch die Patchworkfamilie gehört. Aber auch die Regenbogenfamilie, also Familien, in denen Kinder bei zwei gleichgeschlechtlichen Eltern leben, oder die Mehrgenerationenfamilie lassen sich dazu zählen. Die Familie als solche hat sich nicht überlebt – wohl aber sind ihre Erscheinungsformen vielfältiger geworden. Nach der Familie kommt die Familie! Nur erscheint sie eben in facettenreichen Gewändern. Das kann der Einpersonenhaushalt, die Wohngemeinschaft, die kinderlose Ehe, die Fernbeziehung oder eine polyamore Partnerschaft sein.

Der Grund für diese Entwicklung lässt sich vor allem in den Individualisierungstendenzen suchen, mit denen sich dem Menschen seit den späten sechziger Jahren ganz neue Auswahl- und Entscheidungsmöglichkeiten boten – welche auch die Familie in wildes Gewässer brachten.

Der Soziologe Ulrich Beck beschrieb schon Mitte der achtziger Jahre in seinem Buch Risikogesellschaft, wie mit den Individualisierungsschüben alle bisherigen Leitbilder ihre Gültigkeit verloren. Die Zentrifugalkräfte der Moderne katapultierten den Menschen aus einem festgefügten und engen Lebenskorsett in die unendliche und verheißungsvolle Vielfältigkeit, welche die Gesellschaft ihm bot.

Die Einführung der Pille Anfang der Sechziger erlaubte Frauen und Ehepaaren eine viel bewusstere Entscheidung für oder gegen Kinder. Die Emanzipationsbewegung der Frauen mit ihrem Wunsch nach Teilhabe am gesellschaftlichen und beruflichen Leben bot ihnen auf der einen Seite mehr Möglichkeiten. Zugleich aber litten sie unter den Zwängen und Komplikationen, die sich daraus ergaben. Auch die Bildungsexpansion und damit einhergehende lange Ausbildungszeiten waren nicht unwesentlich beteiligt. Denn das hatte zur Folge, dass sich Jugend verlängerte, der Eintritt in die Phase der Verantwortlichkeit sich auf einen späteren Zeitpunkt verlagerte. Außerdem war die lückenlose Erwerbsbiografie bis zum Eintritt in die Rente nicht mehr der Normalfall. Das hatte nicht nur mit Risiken wie Arbeitslosigkeit zu tun, sondern zum Teil auch mit dem selbstbestimmten Wechsel zu verschiedenen Arbeitgebern.

Und wie reagierte die Politik auf diesen Wandel? In den fünfziger und sechziger Jahren war Familienpolitik noch am Alleinverdienermodell ausgerichtet. Danach wurde sie zum Experimentierfeld. Denn während ein grundlegender sozialer Wandel vonstatten ging, blieben einerseits auf vielen Ebenen die Säulen erhalten, auf denen das alte Modell stabil ruhen konnte. Dazu trugen neben dem Ehegattensplitting das Festhalten an der Halbtagsschule bei. Ebenso wurde jahrelang die Notwendigkeit ignoriert, dass Eltern Kitaplätze benötigen. Andererseits wurden die Menschen mit der Änderung des Scheidungsrechts 1976 und der Reform des Unterhaltsrechts aus traditionellen Zwängen befreit. So hat die Familienpolitik hierzulande jahrelang einen Schlingerkurs verfolgt und zwischen verschiedenen Leitbildern laviert. Das Ergebnis war ein widersprüchlicher Mix, euphemistisch als Wahlfreiheit bezeichnet.

Erst mit der Einführung des Krippenausbaus, dem gesetzlichen Anspruch auf einen Kitaplatz, der Zahlung von Erziehungsgeld und der Möglichkeit, in Elternzeit zu gehen, gab man Eltern verlässliche Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Familie und Berufstätigkeit.

WARUM IST FAMILIE WICHTIG?

Familie ist ein ganz eigenes Universum. Zuerst einmal ist sie ein sozialer Raum. Ist dieser einigermaßen intakt, kann jeder in ihr, ob Kind oder Erwachsener, sich angemessen entwickeln und wachsen. Kann Geborgenheit, Vertrauen, Nähe und Intimität erfahren. Für Kinder ist dies elementar, um Kompetenzen zu entwickeln und Handlungspotenzial zu erwerben, welches sie zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben befähigt. Neben der auch materiellen Fürsorge der Eltern für ihre Kinder spielt die Vermittlung von Werten eine wichtige Rolle.

Nicht nur zu Ostern pflegen die meisten Familien die üblichen oder ganz eigene Rituale. Und ihr Wert – nicht nur für Kinder – ist keineswegs zu unterschätzen. Das gemeinsame Abendessen, das Vorlesen vor dem Zubettgehen, auch der Flohmarktbummel sonntagnachmittags vermitteln Halt. Diese immer wiederkehrenden Handlungen geben Orientierung und Struktur, was gerade in Krisenzeiten stabilisierend wirkt.

Wer Kinder fragt, was ihnen am wichtigsten ist, wird in den allermeisten Fällen die Antwort bekommen: Familie und Freunde. Sie haben eine größere Bedeutung als Geld und Besitz. So sagt es jedenfalls eine von Unicef und der Zeitschrift „Geolino“ vorgestellte Studie. Für die Sechs- bis 14-Jährigen seien Freundschaft, Geborgenheit und Ehrlichkeit die wichtigsten Werte. Für die älteren stehen Freunde und Familie an erster Stelle.

Dieses Bild kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch durch den demografischen Wandel immer mehr Menschen in Singlehaushalten leben, also ohne familiären Kompass durch den Alltag navigieren. Sie suchen sich deshalb häufig eine Ersatzfamilie, in der sie Anerkennung finden. Das kann ein Verein, eine politische Gruppierung, eine religiöse oder spirituelle Gemeinschaft sein. Gerade in Krisen und wirtschaftlich schwierigen Zeiten betonen die Menschen den Wert der Familie.

WAS MACHT FAMILIE SCHWIERIG?

Leo Tolstois Gesellschaftsroman Anna Karenina beginnt mit dem Satz: „Alle glücklichen Familien gleichen einander; jede unglückliche Familie jedoch ist auf ihre besondere Weise unglücklich.“ Während für das Zustandekommen einer Sache immer mehrere Faktoren stimmig sein müssen, reicht ein einziger Faktor, um ihr Misslingen zu besiegeln.

Auf lange Sicht ist die Familie von der sinkenden Geburtenrate bedroht. Diese liegt derzeit statistisch gesehen bei 1,4 Kindern je Frau. Vergegenwärtigt man sich, dass mit Beginn der Industrialisierung, also vor rund 140 Jahren, eine Frau hierzulande durchschnittlich 4,7 Kindern das Leben schenkte, wird die ganze Dramatik dieser Entwicklung deutlich. Wovon ein großer Teil in den vergangenen 40 Jahren stattgefunden hat: Zwischen 1964 und 2006 hat sich die Zahl der Geburten in Deutschland nahezu halbiert. Auch wenn in Berlin, entgegen dem Bundestrend, inzwischen wieder mehr Kinder geboren werden, gibt es hier doch auch am meisten Kinderlose.

Oft wird die geringe Geburtenrate vor allem in gebildeten Schichten den Frauen angelastet: Ihr Streben nach Selbstverwirklichung im Beruf geschehe auf Kosten von Mutterschaft. Tatsächlich aber scheint es mehr und mehr junge Männer zu geben, die unter Bindungsängsten leiden und sich scheuen, die lebenslange Verpflichtung, die mit Vaterschaft einhergeht, zu akzeptieren.

Das alles sind Folgen der Individualisierungstendenzen: Das Streben nach Glück und Freiheit, in dem die Fürsorge für eine Familie als Beschränkung der eigenen Individualität wahrgenommen wird, kollidiert mit der lebenslangen Verantwortung, die Familie mit sich bringt. Wie sehr die Menschen mit diesem Dilemma zu kämpfen haben, lässt sich auch an den hohen Scheidungsraten ablesen. Mittlerweile wird jede dritte Ehe vor Gericht beendet.

Aber auch äußere Faktoren wie Existenzsorgen und Arbeitslosigkeit können das Gelingen von Familie bedrohen. Kinder sind nachgewiesenermaßen ein Armutsrisiko. Auch die mittlerweile von vielen Firmen vorausgesetzte Bereitschaft zu grenzenloser Mobilität lässt viele Menschen ratlos zurück. Denn wo Partner und Kinder sind, ist es eben nicht so einfach, alle Jahre umzuziehen und Schule und Freunde hinter sich zu lassen.

WAS UNTERSCHEIDET FAMILIE VON FREUNDEN?

Blut ist dicker als Wasser. Sagen die einen. Verwandtschaft kann man sich nicht aussuchen, Freunde schon, sagen die anderen. Christian Lindner, 31 Jahre alt und Generalsekretär der FDP, sagt: „Familie sind für mich (...) all die Leute, wo ich ungefragt an den Kühlschrank gehen kann.“

Manche sagen auch: „Meine Mutter ist meine beste Freundin.“ Darin zeigt sich zwar, wie sehr sich heute das Eltern- Kind-Verhältnis zu einer eher partnerschaftlichen, von gegenseitigem Respekt getragenen Beziehung entwickelt hat. Die Generationenkonflikte haben sich entschärft, aus großen Rebellionen sind kleine geworden. Wenn die Eltern selber Popmusik hören oder abends ausgehen, bleibt für die Kinder nur noch wenig, wogegen sie sich auflehnen können. Gleichwohl: Auch wenn sich die wenigsten Eltern mit Sie anreden lassen – es bleibt ein Abhängigkeitsverhältnis.

Das ist bei Freunden nicht so. Wenn sie Fürsorge, Respekt und Liebe vermissen lassen oder Vertrauen missbrauchen, kann man sich von ihnen trennen. Aber das Kind seiner Eltern und Eltern seiner Kinder bleibt man ein Leben lang.

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